Das am östlichen Eingang des Hellesponts gelegene Lampsakos in Mysien wurde um 654/53 v. Chr. von Phokaiern als Kolonie gegründet. Während des Ionischen Aufstands (499-497 v. Chr.) erhob sich Lampsakos ebenso wie zahlreiche andere kleinasiatische Städte gegen die persische Oberhoheit, wurde aber vom persischen Feldherrn Daurises wieder eingenommen. 464 v. Chr. bekam Themistokles Lampsakos als Lehen vom persischen Großkönig Artaxerxes I. Als Mitglied des Attisch-Delischen Seebunds zahlte Lampsakos 12 Talente Tribut (Phoros).
411 v. Chr. fiel die Polis dann von Athen ab, wurde von diesem aber zurückerobert. 405 v. Chr. nahm der spartanische Feldherr Lysandros Lampsakos ein. Anschließend blieb Lampsakos spartanisch bis zum Königsfrieden (Antalkidas-Frieden) von 387 v. Chr. In diesem wurde die Stadt wieder den Persern zugeschlagen. 356 v. Chr. eroberte sie dann der atheni-sche Feldherr Chares. Von 342-334 v. Chr. stand Lampsakos aber erneut unter persischer Oberhoheit. 334 v. Chr. eroberte Alexander der Große die Stadt. Während der Diadochen-kriege gelangte Lampsakos zunächst an Antigonos Monophthalmos, um 302 v. Chr. an Lysimachos, kam wenig später an Demetrios Poliorketes und 295/94 v. Chr. wieder an Ly-simachos. Nach Lysimachos´ Tod (281 v. Chr.) fiel die Stadt ans Seleukidenreich. Um 227/26 v. Chr. wechselte sie in den Besitz der pergamenischen Attaliden, erhielt aber, da sie auf der Seite Attalos´ I. gegen die Seleukiden gekämpft hatte, Autonomie. Diese wurde dann im Frieden von Apameia 188 v. Chr. erneut bestätigt. Danach blieb Lampsakos mit Ausnahme des Jahres 170 v. Chr. eine autonome Stadt im Attalidenreich bis zur Schaffung der Provinz Asia (129 v. Chr.) durch die Römer.
Da Lampsakos im 4. Jahrhundert v. Chr. eine reiche und wohlhabende Polis war, emittierte es zwischen 390 und 330 v. Chr. auch eine ganze Reihe prächtiger Goldstatere. Laut A. Baldwin sind 41 verschiedene Typen dieser Goldstatere auf uns gekommen. Während diese rückseitig allesamt eine Pegasosprotome zeigen – dies war das Wappen von Lampsakos –, tragen sie vorderseitig 41 unterschiedliche Bildmotive. Hierzu zählen figurliche Darstellungen ebenso wie zahlreiche diverse Porträts.
Auf der Vorderseite einer dieser Porträtmünzen, die im Übrigen äußerst selten ist, finden wir den nach links gewandten Kopf einer Göttin, die im Haar einen Kranz aus Lotosblumen und über ihrem Hinterkopf einen Schleier trägt und darüber hinaus mit einem Ohrgehänge und einer Perlenhalskette geschmückt ist. (siehe Abb. 1)
Aber wer ist die dargestellte Göttin? Nun, das Gros der Auktionskataloge, das sich auf Baldwin beruft, bezeichnet diese Göttin als Demeter und verweist u. a. auf den Goldstater Nr. 27 aus dem British Museum Catalogue (BMC 27), obwohl es in der dortigen Beschreibung heißt: „Head of Demeter l[eft], wearing corn-wreath, veil, earring and necklace.“ (Kopf der Demeter nach links, mit Kornkranz, Schleier, Ohrring und Halskette) (Reginald Stuart Poole [Hrsg.], A Catalogue of the Greek Coins in The British Museum, Mysia, Nachdruck, Bologna 1964, S. 81).
Doch der Kranz der Göttin auf unserer Münze ist kein Ährenkranz, sondern ein Kranz aus Lo-tosblüten. Dass die diversen Auktionskataloge diese Göttin dennoch als Demeter interpretieren, ist recht ungewöhnlich, zumal das Attribut der Demeter die Getreideähre und nicht die Lotosblume ist. Die Erklärung, welche Baldwin und die Auktionskataloge anbieten, verweist auf eine „spezielle“ Kultstatue der Demeter, auf der sie möglicherweise mit solch einem Lotoskranz gezeigt wurde, und von der sich die Stempelschneider aus Lampsakos dann inspiriert haben dürften.
Da die Existenz einer solchen Statue aber bis heute reine Fiktion geblieben ist, ist auch dieser Erklärungsversuch nur wenig überzeugend. Und warum hätte man die Ackerbaugöttin Demeter, die jeder in der Antike in erster Reihe mit Getreide in Verbindung brachte, und die im 4. Jh. v. Chr. in ganz Griechenland mit Ährenkranz dargestellt wurde, nun plötzlich völlig anders darstellen sollen? Und wäre die Göttin auch problemlos als Demeter erkannt worden oder hätten viele Demeter damit gar nicht assoziieren können? Außerdem gab es in Lampsakos bereits einen Goldstater (vgl. BMC 23), der vorderseitig den Kopf einer Göttin mit Ährenkranz zeigte und zu dem der BMC schreibt: „Head of Demeter or Persephone r[ight], wreathed with corn.“ (Kopf der Demeter oder der Persephone nach rechts, mit Korn bekränzt) (BMC ebenda, S. 80).
Aber wenn die Dargestellte auf Abb. 1 nicht Demeter ist, wer könnte es dann sein? Nun, auf einem etwa 30 Jahre später geprägten Goldstater aus Lampsakos begegnen wir erneut einer Göttin, die ihre Haare am Hinterkopf in einem Tuch zusammengenommen und mit einem Lotoskranz bekränzt hat. (siehe Abb. 2)
Während dieser Kopf im BMC 30 nur als weiblicher Kopf mit Lotoskranz (?) beschrieben wird, sehen zahlreiche Auktionskataloge hierin den Kopf der Aphrodite. Für Aphrodite spricht die Tatsache, dass diese Göttin im Unterschied zu Demeter Blumen zu ihren Attributen zählte. „Zu den Lieblingspflanzen [der Aphrodite] gehören die <Äpfel> … aber auch Blumen und Myrte.“ (Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Bd. 1, Sp. 842). Sollten wir es bei dieser mit Lotos bekränzten Göttin also tatsächlich mit Aphrodite zu tun haben, was in Anbetracht der erwähnten Attribute gar nicht so abwegig wäre, dann könnte es sich auch bei dem verschleierten Kopf aus Abb. 1 um den Kopf der Aphrodite handeln. Der Unterschied der beiden Köpfe bestünde dann nicht in der Bekränzung, wenngleich die Lotoskränze auch nicht absolut gleich ausschauen, sondern vielmehr in der Tatsache, dass der Kopf einmal verschleiert und 30 Jahre später unverschleiert erscheint. Übrigens, der Münzfuß dieser Goldstatere war der persische (8,4 g/Stater).
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