Zu den hierzulande einprägsamsten Ereignissen der Gegenwart gehören die Zeit der Wende und der Weg zur deutschen Wiedervereinigung. Wie die Schritte zur Währungsunion erfolgten, skizziert unter anderem die Chronik der Wende von Hannes Bahrmann und Christoph Links (Berlin 1994/95). Dass der Alltag einer damals 18-Jährigen nicht ausschließlich mit dem Umtausch von Ost- in Westmark zu tun hatte, zeigt dagegen Meine freie deutsche Jugend von Claudia Rusch (Frankfurt/Main 2007). Am Abend des 9. November 1989 erklärte Günter Schabowski (SED) auf einer Pressekonferenz, dass Reisen in den Westen „unverzüglich“ ermöglicht würden. In den folgenden Tagen wurden die Grenzübergänze zur Bundesrepublik regelrecht gestürmt. In West-Berlin bildeten sich Schlangen von wartenden DDR-Bürgern vor Banken und Sparkassen, um das von der Bundesrepublik gezahlte „Begrüßungsgeld“ in Höhe von 100 DM entgegenzunehmen. Die Auswirkungen für die DDR-Mark waren gravierend: „Der anhaltende Reisestrom in die BRD führt zu einem rapiden Verfall des illegalen Umtauschkurses in den West-Berliner Wechselstuben. An einzelnen Tagen sackt er auf ein Verhältnis von 1:20, was in der DDR zu Spekulationen über eine mögliche Währungsreform führt. Dem tritt der Präsident der Staatsbank offiziell entgegen und versichert, dass die Spareinlagen der Bevölkerung gesichert bleiben und der Staat auch künftig die Sicherheit der Bevölkerungsguthaben gewährleiste.“ (Bahrmann, Band 1, S. 111). Die DDR-Regierung war dennoch besorgt. Wirtschaftsministerin Christa Luft erklärte, dass eine neue, frei konvertierbare Mark der DDR mit einem stabilen Wechselkurs zu den westeuropäischen Leitwährungen geschaffen werden müsse. Es kam zu diversen Maßnahmen gegen einen „Ausverkauf der DDR“. Mit dem Wunsch nach einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde jedoch schon bald die Einführung der D-Mark in der DDR gefordert.
Claudia Rusch erinnert sich, dass am Morgen des 10. November in ihrer Schule die Auswertung der letzten Hausaufgabe in Geschichte auf dem Programm stand. Thema: „Begründen Sie, dass der antifaschistische Schutzwall auch heute noch seine Berechtigung hat!“ (Rusch, S. 129). Quot non iam erat demonstrandum, lautet ihr Kommentar. Die verballhornte Wendung aus dem Latein stellt das Gelernte auf den Kopf: Was nicht mehr zu beweisen war! Sie erinnert sich, dass es damals oft etwas zu lachen gab: „Angeblich hat ein pointenbewusster ostdeutscher Bürgerrechtler dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand im Dezember 1989 vorgeschlagen, die DDR doch einfach mit Frankreich zu vereinigen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber ich weiß, ich wäre sofort dabei gewesen. Ich wollte schon als kleines Mädchen nur eins: Französin werden.“ (Rusch, S. 68). Im Januar 1990 nahm die Diskussion zur Zukunft der DDR-Mark an Fahrt auf. Am 13. Januar empfahl Matthias Wissmann, wirtschaftspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, bis 1995 eine „gesamtdeutsche D-Mark“ einzuführen. Christa Luft, die Wirtschaftsministerin der DDR forderte am 3. Februar 1990 dagegen, einen festen Wechselkurs zwischen D-Mark und DDR-Mark, der seitens der Bundesrepublik gestützt werde. Am 7. Februar billigte die Bundesregierung ihren Plan zu einer baldigen Währungs- und Wirtschaftsunion und bildete dafür einen Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit“. Beim Gipfeltreffen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow wurde die Bildung einer Expertenkommission zur Vorbereitung einer Währungsunion vereinbart. Die Frage einer deutschen Wiedervereinigung rückte bis zur Volkskammerwahl vom März 1990 daraufhin in den Mittelpunkt des Interesses. Nach der Wahl wurde dann wochenlang über den Umtauschkurs der DDR-Mark diskutiert. Die Bundesbank verlangte eine Umstellung zu einem Kurs von 2:1. Der Bundeskanzler versicherte, er werde sich für „die normalen Sparer um einen Umtauschkurs bemühen, der 1:1 beträgt“. (Bahrmann, Band 2, S. 192). Am 23. April einigten sich die Bonner Koalitionsspitzen auf einen Kompromiss. Löhne und Gehälter sollten 1:1 umgestellt werden, Sparguthaben und Bargeld mit einem Kurs von 2:1. Ausgenommen seien 4.000 Mark für jeden Erwachsenen und 2.000 Mark für jedes Kind, die 1:1 umgestellt würden. Diese Regelung sollte zur Folge haben, dass die Bankguthaben in den Familien zur Ertragssteigerung munter transferiert wurden. Am 24. April 1990 verständigten sich Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Lothar de Maizière (DDR), dass die D-Mark zum 1. Juli 1990 eingeführt werden soll.
Claudia Rusch konnte im Februar 1990 zum ersten Mal nach Frankreich fahren. Sie hatte sich extra einen DDR-Reisepass ausstellen lassen und bei der französischen Botschaft in Ost-Berlin ein Visum beantragt. Der Grenzübertritt verlief unspektakulär. Nicht einmal einen Einreisetempel bekam sie in ihren Pass! Claudia war enttäuscht. Anders war es in Paris. Wie Watte lief sie durch die Stadt: „An den unmöglichsten Orten kamen mir die Tränen, und ich konnte mein Glück nicht fassen. Ich war 18 Jahre alt, und ich stand mitten in Paris. Wo genau, war mir völlig egal. Ich wollte nichts Spezielles anschauen, ich wollte einfach nur dort sein. Meine Reise war überwältigend und irreal.“ (Rusch, S. 148). Auf der Rückreise im Zug versuchte sie noch einmal, ihr heiß begehrtes Reise-Souvenir zu erhalten. An der Grenze wandte sie sich schüchtern an den uniformierten Beamten, der durch die Abteile kam: „Monsieur? Dürfte ich vielleicht einen Stempel in meinen Pass bekommen? Es ist meine allererste Reise nach Frankreich, wissen Sie.“ (Rusch, S. 84). Dazu sah sie ihn mit traurigen Augen von schräg unten an. Das Arme Ost-Kind, muss der Beamte gedacht haben. Er griff in seine Tasche und zauberte einen großen Stempel hervor. Mitten in Claudias Pass prangte er nun, ein französischer Stempel, der Beweis für ihren Grenzübertritt! Er trug das Datum des 1. März 1990. Am Sonntag, dem 1. Juli 1990, war es soweit. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen den beiden Staaten trat in Kraft. Die D-Mark wurde in der DDR als Zahlungsmittel eingeführt. Die Bevölkerung feierte das neue Geld mit Feuerwerk und Sekt. Der Wechsel des Bargeldes und die Umstellung der Guthaben verliefen relativ problemlos. In der Presse stand: „Die gegen D-Mark eingetauschten 16 Milliarden DDR-Mark sollen in einem 13 Kilometer langen Stollensystem bei Halberstadt im Harz ihre ‚letzte Ruhestätte‘ finden, wie die Pressestelle des Finanzministeriums mitteilt. Dort soll das in 100.000 Leinensäcke verpackte Papiergeld vom lila Fünfer bis zum blauen Hunderter mit dem Bildnis von Karl Marx verrotten. Das wertlose Geld, das hinter einer Beton-Barriere lagert, werde mit einer Kunstharzflüssigkeit unbrauchbar gemacht. (…) Bei den Münzen will es sich die Staatsbank einfacher machen. Die 4.500 Tonnen Kleingeld werden eingeschmolzen und sollen als Türgriffe für Edelkarossen ein zweites Leben bekommen.“ (Bahrmann, Band 2, S. 264).
Claudia Rusche hatte derweil andere Sorgen. Gemeinsam mit weiteren Jugendlichen aus der DDR hatte sie es auf Einladung des französischen Staatspräsidenten François Mitterand bis an die Côte d’Azur geschafft: „Wir zogen uns nackt aus und sprangen kreischend in die Fluten. (…) Wir saßen kaum zum Trocknen auf den Handtüchern, als bereits die berittene französische Strandpolizei aufkreuzte und uns wild gestikulierend anwies, uns zu bedecken. Sie waren sehr wütend und sahen aus, als würden sie gleich schießen. Wir verstanden nicht sofort, was sie eigentlich aufregte. Wir waren uns keiner Schuld bewusst. An den langen Ostsee-Stränden badeten alle nackt. Keiner von uns war auf die Idee gekommen, dass FKK am Mittelmeer nicht üblich sein könnte. Wir hatten nicht mal Badesachen mitgenommen. Unsere Dolmetscherin bemühte sich redlich, die angedrohte Geldstrafe abzuwenden. Mit bedeutungsschwangerer Miene erklärte sie den Polizisten, dass wir eine Jungendgruppe aus der DDR seien und dort sei Badebekleidung gänzlich unbekannt.“ (Rusch, S. 108). #DDR #BRD #Währungsunion #Umtausch #Mark #GünterSchabowski #LotharDeMaiziere #HelmutKohl #Wende #Wiedervereinigung #DietmarKreutzer
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