Der Besuch der Mutter des späteren Schriftstellers Michael Gold im Haus des Vorarbeiters glich einer Posse: „Frau Cohen, eine dicke Frau in mittleren Jahren, lag auf einem Sofa. Sie funkelte und glitzerte wie ein Automatenbufett. Ihre massigen Beine ruhten auf einem roten Kissen. Ihr Kopf ruhte auf einem grünen Kissen, Brillantenkämme funkelten in dem gebleichten blonden Haar. Sie trug eine purpurne, mit einer Unmenge Stickerei und Spitzen behängte Seidenbluse. An ihren Ohrläppchen schimmerten Brillanten, an jedem Finger funkelte ein Brillantring. Sie sah aus wie irgendeine ganz vulgäre, prätenziöse Prosituierte, war aber nur die typische Frau eines jüdischen Emporkömmlings.“ (Michael Gold: Juden ohne Geld, Berlin 1989, S. 162f.) Als die Frau des Vorarbeiters über ihre Kopfschmerzen und deren Ursachen zu jammern begann, wurde die Situation noch kurioser: „Vielleicht ist es deshalb, weil ich gestern Abend bei Lorbeer ein großes Souper mit zehn Gängen gegessen habe, zu drei fünfzig. Ich sollte nicht im Restaurant essen. Das Essen, das meine Köchin kocht, bekommt mir besser; ich bin nämlich sehr nervös. Sie ist eine gute Köchin, eine wunderbare Köchin, wir zahlen ihr achtzig Dollar im Monat, und unsere Gemüse- und Schlächterrechnung macht fast hundertundfünfzig im Monat aus. In ein gutes Haus gehört eine gute Köchin. Dieses Haus hat meinem Mann zwanzigtausend Dollar gekostet; es ist das teuerste Haus im Boroughpark. Was haben Sie für ihre Bluse bezahlt?“ (Ebenda, S. 163f.) Als die Mutter Golds stammelte, sie habe zwei Dollar gekostet, war die vermeintliche Aristokratin entsetzt: „Pfui, das dachte ich mir. […] Für so wenig Geld bekommt man nur Lumpen. Meine Blusen kosten mich nie unter dreißig bis vierzig Dollar und meine Schuhe zwölf Dollar und meine Hüte von fünfzig Dollar aufwärts. In unserer Stellung muss man sich gut anziehen. Und wie ich oft zu meinem Mann sage, auf die Dauer kommt es am billigsten, wenn man immer nur das Beste kauft. Finden Sie nicht?“ (Ebenda) Golds Mutter nickte eingeschüchtert.
In seinen 1930 erschienenen Erinnerungen beschreibt Michael Gold den Traum vieler nach Amerika eingewanderter Juden. Sein vom Leben enttäuschter Vater hatte ihm eingeschärft: „In diesem Land ist es besser, tot zu sein, als kein Geld zu haben. Versprich mir, dass du reich werden wirst, wenn du einmal groß sein wirst, Mikey!“ (Ebenda, S. 225) Der Sohn des aus Rumänien eingewanderten Juden hatte jedoch keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Schon als Kind hatte er schließlich nie mehr als das Nötigste: „Wir sind barfüßig. Das Pflaster verbrennt uns die Haut, aber wir lieben diese glühende Berührung und fordern einander heraus, über die heißesten Stellen zu gehen.“ (Ebenda, S. 34) Hatte der Vater einmal Geld und drückte ihm einen Penny in die Hand, war Michael glücklich. „Mit einem Penny konnte man sehr viel kaufen: ein Würstchen oder eine Tasse Kakao oder eine von dreißig Sorten giftigen Zuckerwerks, Wassermelonen, Äpfel, Delikatessen aus der Alten Welt wie zum Beispiel türkische Halwa und Lukuum, Liverknitsches, russische Sonnenblumenkerne, rumänisches Backwerk, eingemachte Tomaten. Eine Mischung aus fünf von diesen Straßengenüssen für eine Nickel (fünf Cent, d. A.) rief die erstaunlichsten jiddischen Alpträume hervor.“ (Ebenda, S. 24) Doch in einem Winter spielte eine Wirtschaftskrise das Viertel der armen Juden an der Bowery arg mit. Eine Familie, die ihre Miete nicht zahlen konnte, saß mit Sack und Pack auf dem Bürgersteig. Auf einem Tisch stand ein Teller: „Wenn genug Nickel in den Teller fielen, würden sie vielleicht die Miete oder ein neues Obdach haben.“ (Ebenda, S. 180f.) Da erlitt Michaels Vater einen schweren Berufsunfall. Das Gerüst seiner Malerkolonne an der Fassade eines Hauses war eingestürzt. Der einzige Wertgegenstand musste verpfändet werden, ein kleiner Brillantring, den der Vater seiner Ehefrau in einer kurzen Zeit des Aufschwungs einmal geschenkt hatte.
Der Vermieter der Familie, ebenfalls Jude, hatte mit säumigen Mietern kein Erbarmen: „Jeden Penny, den er erwischen konnte, sparte er wie ein Geizhals auf. Er wickelte die Nickel und Vierteldollars in einen Beutel, den er dann in einer Spalte unter seiner Matratze versteckte. (…) Er missgönnte seiner Frau und seinen Kindern jeden Penny, den sie brauchten. Er gab ihnen wenig zu essen. Seine Frau wurde krank; er gönnte ihr keinen Arzt. Sie starb. Bei dem Begräbnis stritt er sich mit dem Leichenbestatter um die Begräbniskosten.“ (Ebenda, S. 189) Auf diese Weise brachte er es zu einer eigenen Pfandleihe und mehreren Mietshäusern. Dennoch sparte er sich jeden Penny vom Munde ab, lebte von Heringen und trocken Brot. In die Pfandleihe dieses Mann ging Michaels Mutter nun mit dem Diamantring: „Jeder Gegenstand, der mehr als einen Vierteldollar wert war, wurde von Herrn Zunzer als Pfand entgegengenommen, ob es nun das falsche Gebiss eines alten Mannes oder eine Säuglingswindel war. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Leute diese kleinen Bedarfsgegenstände wieder auslösen würden. Wenn er bei einem Geschäft zehn Cent verdiente, war er zufrieden, denn die Zahl seiner Kunden ging in die Hunderte. Das ergab am Wochenende eine große Gesamtsumme.“ (Ebenda, S. 191) Als Michael und seine Mutter den Laden betraten, beugte sich der Inhaber wie eine gierige Spinne über den Ladentisch. Er nahm den Ring, der ihm gereicht wurde, klemmte eine Juwelierlupe ins Auge und betrachtete ihn im Schein des Gaslichts. „Zehn Dollar“, sagte er. „Ich muss fünfzehn haben“, erwiderte Michaels Mutter. Sie stritten. Weil Frau Gold den Mann bereits einmal beim Kassieren der Miete bezwungen hatte, trug sie letztlich erneut den Sieg davon: „Der Hauswirt wurde blass. Er sah meine Mutter ängstlich an. […] Er schrieb einen Pfandschein aus und gab meiner Mutter fünfzehn Dollar.“ (Ebenda, S. 192)
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