Nike errichtet oder bekränzt ein Tropaion
- Michael Kurt Sonntag
- vor 1 Stunde
- 6 Min. Lesezeit
Imposante Bildmotive der antiken griechischen Numismatik
Folgt man dem antiken Autor Hesiod, dann ist Nike die Tochter der Styx und des Pallas. Ihre Mutter Styx wiederum ist die Tochter der Titanen Okeanos und Tethys und ihr Vater Pallas, Sohn des Titanen Kreios und der Eurybia. Die Geschwister der Nike sind Zelos (Personifikation des Eifers), Kratos (Personifikation der Macht) und Bia (Personifikation der Gewalt). Sie selbst ist die Personifikation des Sieges, sowohl im sportlichen als auch im dramatischen Agon (Wettkampf) und ebenso in der militärischen Schlacht, weshalb sie bisweilen auch als Göttin des Sieges bezeichnet wird. Doch den Sieg erringen kann letztlich nur, wer in der Gunst der olympischen Götter steht. Am Ende sind es nämlich die Götter, allen voran Zeus und Athena, die einem Konkurrenten oder einem Feldherrn den Sieg mit Hilfe der Nike schenken. Dass sich die geflügelte Nike auf den Skulpturen von Zeus oder Athena häufig stehend auf deren rechter Hand findet, ist folglich kein Zufall, sondern Ausdruck einer engen Verbundenheit mit diesen Göttern. Hierbei hält die Nike einen Kranz in ihrer Hand bzw. Händen. Aber weshalb ist diese weibliche Personifikation des Sieges überhaupt geflügelt und warum hält sie einen Kranz? Nun, die Flügel sind keineswegs nur ikonografisches Beiwerk, um die Skulptur interessanter oder schöner erscheinen zu lassen, sondern integraler Bestandteil des Nike-Körpers. Damit fliegt sie über Wettkampfarenen und Schlachtfelder, beobachtet das Geschehen sehr genau und ermittelt so den Gewinner, den sie anschließend mit ihrem Kranz zum Sieger kürt. Sieger konnte aber nur werden, wer bereits im Vorfeld in der Gunst der Götter stand, ein Liebling der Götter war, zumal immenser Mut, außerordentliche Tapferkeit und enorme mentale Stärke Eigenschaften waren, die ohne göttliche Hilfe nie in dem erforderlichen Maß vorhanden gewesen wären, um einen Sieg davontragen zu können. Die Flügel der Nike stehen allerdings nicht allein für ihre Flugfähigkeit, sondern symbolisieren ebenso die potentielle Flüchtigkeit des Sieges. Denn ein Sieg kommt nicht, um für ewig zu bleiben. Ein siegreicher Wettkämpfer oder siegreicher Feldherr muss sich im nächsten Wettkampf bzw. in der nächsten Schlacht erneut beweisen. Trifft er dabei auf einen ihm überlegenen Gegner oder Feind, wird er kläglich scheitern. Sich auf dem Lorbeer des Siegers auszuruhen, ist folglich das Unvernünftigste und Gefährlichste, das sich ein Sieger leisten kann. Die Nike entscheidet sich nämlich völlig gerecht und unbestechlich bei jedem Wettkampf und jeder Schlacht aufs neue für den Besseren, den Stärkeren und kürt ihn mit ihrem Kranz zum Sieger. Ihr „Geschenk“, das sie im Auftrag der Götter vergibt, ist also immer ein potentiell flüchtiges, eines, das ebenso schnell wieder verschinden kann, wie es gewährt wurde.
Auf den Münzen antiker Poleis oder antiker Könige erscheint Nike allerdings nicht nur als die Göttin, die einen Kranz hält oder damit den Namen eines Herrschers bekränzt, sondern auch als Diejenige, die ein Tropaion (ein Siegesmal aus den erbeuteten Waffen besiegter Feinde) errichtet (Abb. 1–3) oder ein solches bekränzt (Abb. 4–5):

Abb. 1: Lampsakos (Mysien). Stater (um 360–350 v. Chr.), Gold, 8,39 g, Ø 18 mm. Münzstätte Lampsakos. Foto: Numismatica Genevensis SA, Auktion 5 (3. Dezember 2008), Los 110

Abb: 2.1: Syrakus (Sizilien) unter dem Tyrannen Agathokles (317–305 v. Chr.). Tetradrachmon (310–308 v. Chr.), Silber, 16,77 g, Ø (Höhe Rs.) 27,1 mm. Münzstätte Syrakus. Foto: Dr. Busso Peus Nachf., Auktion 431 (27. April 2022), Los 3059

Abb: 2.2: Syrakus (Sizilien) unter dem Tyrannen Agathokles (317–305 v. Chr.). Tetradrachmon (310–308 v. Chr.), Silber, 16,92 g, Ø (Höhe Rs.) 26 mm. Münzstätte Syrakus. Foto: Numismatik Lanz, Auktion 117 (November 2003), Los 123. [seltene Variante: bei Oliver Hoover nicht verzeichnet aber bei Michael Ierardi, Nr. 136 (Av. 34/Rv. 89)]

Abb: 3: Seleukidenreich. Antiochos I. Soter (281–261 v. Chr.). Nominal C, Bronze, 3,82 g, Ø (Höhe Rs.) 17 mm. Münzstätte Seleukeia am Tigris. Foto: Gorny & Mosch, Auktion 301 (21. Februar 2024), Los 61

Abb: 4.1: Seleukidenreich. Seleukos I. Nikator (312/11–281 v. Chr.). Tetradrachmon (305/04–295 v. Chr.), Silber, 16,83 g, Ø (Höhe Vs.) 28 mm. Münzstätte Susa. Foto: Gorny & Mosch, Auktion 284 (7. März 2022), Los 362

Abb: 4.2: Seleukidenreich. Seleukos I. Nikator (312/11–281 v. Chr.). Tetradrachmon (305/04–295 v. Chr.), Silber, 17,05 g, Ø (Höhe Rs.) 27 mm. Münzstätte Susa. Foto: MA-Shops, Kölner Münzkabinett (März 2025)

Abb: 5: Liga der Brettier (Bruttium). Nominal A (214–211 v. Chr.), Bronze, 19,93 g, Ø (Höhe Rs.) 26 mm. Münzstätte Bruttium. Foto: H. D. Rauch, E-Auktion 43 (3. April 2024), Los 106
Auf der Vorderseite des anepigraphischen Goldstaters von Lampsakos aus Abb. 1 erscheint Nike halbnackt vor einem Tropaion nach rechts kniend, einen Hammer in ihrer Rechten und einen Nagel in ihrer Linken, im Begriff diesen in das Tropaion einzuschlagen. Die Rückseite zeigt eine nach rechts fliegende Pegasosprotome, das Wahrzeichen bzw. Wappen von Lampsakos.
Ebenfalls halbnackt und ebenso mit Hammer und Nagel ausgestattet, begegnet uns die Nike auf den Rückseiten der motivgleichen syrakusanischen Tetradrachmen des Tyrannen Agathokles aus Abb. 2.1 und 2.2. Allerdings steht sie hierbei aufrecht, fast von vorn, und wendet nur ihren Kopf und ihren linken Arm mit dem Nagel in der Hand dem Tropaion zu. Da diese Tetradrachmen Emissionen des Agathokles sind, die jener nach seinem Sieg über die Karthager unter Hanno und Bomilkar ab 310 v. Chr. prägen ließ, tragen sie auch die Umschrift ΑΓΑΘΟΚΛΕΙΟΣ (Agathokleische [Münze]). Die Vorderseiten wiederum zieren die mit einer Kornähre bekränzten Porträtköpfe der Demeter-Tochter, Kore Persephone. Auf der eindeutig häufigeren Variante (Abb. 2.1) erscheint der Name ΚΟΡΑΣ (Kore) hinter dem Nacken der Persephone. Die seltenere Variante (Abb. 2.2) – Oliver Hoover erwähnt diese nicht, aber Michael Ierardi tut es – nennt den Namen ΚΟΡΑΣ nicht mehr, trägt aber vor dem Gesicht der Persephone die Umschrift ΣΥΡΑΚΟΣΙΩΝ (diese ist auf unserer Münze jedoch nicht zu lesen, da sie wegen leichter Dezentrierung bereits außerhalb des Schrötlings liegt).
Eine vollständig bekleidete Nike, die letzte Hand an das von ihr errichtete Tropaion anlegt, sehen wir auf der Rückseite eines kleinen Bronzenominals des Seleukidenkönigs Antiochos´ I. Soter aus Abb. 3. Die Münzlegende, die das Nike-Tropaionmotiv flankiert, lautet ΒΑΣΙΛΕΩΣ / ΑΝΤΙΟΧΟΥ ([Münze] des Königs Antiochos). Vorderseitig erscheint ein recht seltenes Dreiviertelporträt des belorbeerten Gottes Apollon leicht nach rechts hin.
Zu Ehren seiner siegreichen Indien-Feldzüge 305 v. Chr. ließ auch der Seleukidenkönig Seleukos I. Nikator zwischen 305/04 und 295 v. Chr. Nike-Tropaion-Münzen prägen. Dass sich seine Stempelschneider hierbei von den Tetradrachmen des Agathokles aus Syrakus inspirieren ließen, ist unschwer zu erkennen, wenn man die rückseitigen Bildmotive der Münzen 2.1 und 2.2 einmal mit jenen der Münzen 4.1 und 4.2 vergleicht. Sicher, die Nike auf den Seleukos-Tetradrachmen ist bekleidet und nicht halbnackt, auch steht sie nach rechts hin und nicht fast nach vorn, zudem bekränzt sie das Tropaion und errichtet es nicht, doch wurde die Position der Flügel nahezu 1:1 übernommen, wenngleich genau das bei dieser Nike stilistisch-künstlerisch äußerst ungeschickt war. Bei einer nach rechts hin stehenden Nike, die beide Hände zum Tropaion hin ausstreckt, um dieses zu bekränzen, hätten sich die Flügel, perspektivisch betrachtet, mitdrehen müssen bzw. hätte ein Flügel den anderen größtenteils verdecken müssen, wie dies in Abb. 3 perspektivisch gelungen ist. Stattdessen kann man bei den Tetradrachmen aus den Abb. 4.1 und 4.2 die komplett geöffneten Flügel gleichzeitig sehen, wodurch der Eindruck ensteht, als wären die Flügel an der linken Schulter der Nike angewachsen und nicht in der Mitte ihres Rückens. Überaus gelungen und geradezu imposant kommt dagegen das behelmte Porträt der Münzvorderseite daher. Darauf ist der Kopf eines jungen Mannes zu sehen, der einen mit Leopardenfell überzogenen Helm mit Nackenschutz und Wangenklappen, Stierhörnern und Stierohren trägt und um den Hals ein geknotetes Leopardenfell gebunden hat. Um wen es sich bei dem Abgebildeten handelt, ist von der Fachwelt lange kontrovers diskutiert worden, sahen doch die einen in ihm Alexander den Großen und die anderen Seleukos I. Nikator. Die neueste numismatische Forschung wiederum tendiert dahin, den Kopf als den eines „Helden“ zu sehen, der Dionysos, Alexander und Seleukos in ihrer Rolle als Indien-Eroberer angleicht. Dieser Interpretation zu Folge, hob Seleukos seine Indien-Siege mit Hilfe dieser Münze geschickt auf eine Stufe mit denen seines großen Vorgängers und stellte sich dadurch gleichzeitig als einen überaus würdigen Nachfolger Alexanders dar.
Eine wieder auch perspektivisch einwandfrei dargestellte Nike findet sich rückseitig auf einem Bronzenominal der Brettier aus der Zeit des I. Punischen Krieges (Abb. 5). Hierauf sehen wir die bekleidete Siegesgöttin nebst einem Tropaion halblinks stehend, die mit der einen Hand das Tropaion bekränzt und in der anderen einen Palmwedel hält. Die Umschrift lautet ΒΡΕΤΤΙΩΝ ([Münze] der Brettier). Das Vorderseiten-Pendant zeigt den nach links gewandten Kopf des Ares im Korinthischen Helm mit fliegendem Pegasos auf dem Helmkessel.
Insgesamt betrachtet, gehören die erwähnten Nike-Tropaion-Münzen zu den thematisch-ikonographisch eindrucksvollsten und größtenteils auch stilistisch gelungensten Geprägen der antiken griechischen Numismatik.
Michael Kurt Sonntag
Literatur: Peter Robert Franke, Max Hirmer: Die Griechische Münze. München 1964; Eva und Wolfgang Szaivert nach David R. Sear: Griechischer Münzkatalog. Bd. 1: Europa. München 1980. Bd. 2: Asien und Afrika. München 1983; Oliver D. Hoover: Handbook of Greek Coinage Series. Bde. 2 und 9, Lancaster, London 2009, 2012; Michael Ierardi: The Tetradrachms of Agathokles of Syrakus: A Preliminary Study, S. 1-73, in: American Journal of Numismatics 7–8, New York 1995-96; Albert von Schirnding (Hrsg. u. Übers.): Hesiod: Theogonie/Werke und Tage. 5. Auflage. Berlin 2012; Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Hrsg.): Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, 16 Bde., Stuttgart, Weimar 1996–2003.
Den in den Bildunterschriften erwähnten Quellen sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich gedankt