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Michael Kurt Sonntag

Nicht alle antiken Mythen werden von Gold- und Silbermünzen erzählt

Von der ersten Arbeit des Herakles, in der dieser den Nemeischen Löwen erwürgte, ihm das Fell abzog und es seinem Auftraggeber König Erestheus überbrachte, hat nahezu jeder schon einmal gehört. Auch gibt es keinen antiken Mythos, der von den antiken Stempelschneidern so häufig inszeniert wurde wie die Tötung des erwähnten Löwen durch Herakles. Besonders schöne und eindrucksvolle Stücke, die ihn im Kampf mit dem Nemeischen Löwen zeigen, kommen beispielsweise aus dem antiken Syrakus sowie dem antiken Herakleia in Lukanien.


Sizilien, Syrakus. 100 Litrae bzw. Oktobol (um 404 v. Chr.). Gold, 5,78 g, 15 mm. Münzstätte Syrakus [Gorny & Mosch 269/145]


Lukanien, Herakleia. Stater (um 390–340 v. Chr.). Silber, 7,72 g, 21,81 mm. Münzstätte Herakleia oder Taras [H. D. Rauch 97/56]


Dass die Stempelschneider bei der Umsetzung dieser dramatichen Szene viel künstlerische Freiheit genossen, beweist die Tatsache, dass Herakles den Löwen auf der Goldmünze im Knien erwürgt, während er auf der Silbermünze diese gefährliche Aufgabe stehend erledigt. Trotzdem sind beide Bildmotive überaus imposant und ausdrucksstark und werfen ein Schlaglicht ganz besonderer Art auf die hohe antike griechische Stempelschneidekunst der Periode 405–340 v. Chr.

Aber längst nicht alle antiken Mythen werden von Gold- und Silbermünzen erzählt. Mythen, wie beispielsweise der vom Wettstreit des Marsyas mit dem Gott Apollon, erscheinen auf keiner einzigen antiken griechischen Gold- und Silbermünze. Streng genommen, gibt es bloß ein kleines Bronzenominal aus Apameia in Phrygien, das rückseitig den erwähnten nackten Marsyas zeigt, der über ein Maianderband schreitet und eine Doppelflöte (griechisch Aulos) spielt. Vorderseitig ist diese Bronzemünze mit dem nach rechts gewandten Porträt der Göttin Artemis mit geschultertem Bogen und Köcher und Mauerkrone auf dem Kopf, der sie gleichzeitig als Tyche ausweist, geschmückt.

Phrygien, Apameia am Maiander. Kleinbronze (um 57–54 v. Chr.). Bronze, 4,53 g, 18 mm

[CNG, Electronic Auction 281/121]


Die Münzlegende der Bronzemünze lautet: ΑΠΑΜΕ[ΩΝ] – ΑΤΤΑΛΟ[Υ] / ΒΙΑΝΟΡ[ΟΣ] ([Münze] der Apameier – des Attalos [Sohn] Bianoros). Bianoros wiederum ist der „Beamte“, der für die Münzprägung verantwortlich zeichnet. Das kurze Maianderband, auf dem Marsyas schreitet, signalisiert, dass es sich hier zweifelsfrei um die Stadt Apameia am Maiandros in Phrygien handelt und nicht etwa um Apameia am Orontes in Syrien. „Marsyas [war ein] phrygischer Flussgott und Schutzgottheit von Kelainai, dargestellt als Satyr oder Silen.“ (Der neue Pauly, Bd. 7, Sp. 955) Bei Kelainai handelt es sich um den ehemaligen Hauptort von Phrygien, er wurde von Antiochos I. Soter (281–261 v. Chr.) als Apameia am Maiandros neu gegründet. Den Namen Apameia erhielt die Stadt nach Apama, der baktrischen Mutter von Antiochos I.

Der antiken Mythologie zufolge soll die Göttin Athena bei Kelainai (Apameia) die Doppelflöte erfunden haben. Zunächst gefielen ihr das neue Instrument und die Töne, die es hervorbrachte. Nachdem sie jedoch eines Tages ihr Spiegelbild beim Flötenspiel in der Wasseroberfläche eines Sees betrachtet hatte, warf die eitle Göttin die Flöte entsetzt zu Boden, da diese beim Spielen ihr Gesicht entstellte. Gleichzeitig verfluchte sie jeden, der es wagen sollte, jemals wieder auf diesem Instrument zu musizieren. Marsyas fand die Flöte, nahm sie an sich und spielte so virtuos darauf, dass er zum einen schon bald als Entdecker des Flötenspiels galt und zum anderen so frevelhaft übermutig wurde, dass er sich dazu erdreistete, damit den berühmten Gott der Musik, Apollon, im Wettstreit herauszufordern.


Skulpturengruppe „Athena und Marsyas“. Rekonstruktion nach einem verloren gegangenen Bronzeoriginal des antiken Bildhauers Myron (um 450 v. Chr.). Standort: Botanischer Garten, Kopenhagen [Wikimedia Commons, Zserghei]


Schiedsrichter im Wettstreit sollten die Musen, die Göttinnen der Künste, sein. Da die Musen zunächst Marsyas als Sieger ansahen, schlug Apollon vor, der Musizierende solle sein Instrument umdrehen und zu diesem auch singen. Weil Marsyas die Flöte aber weder umdrehen noch dazu singen konnte, Apollon dagegen wunderbar zu seinem Kitharaspiel sang, erklärten die Musen schließlich Apollon zum Sieger. Zur Strafe für seine ungeheuerliche Hybris, einen olympischen Gott herausgefordert zu haben, ließ Apollon Marsyas an einen Baum hängen und von einem Skythen schinden. Der antike Autor Ovid beschreibt die unglaubliche Szene: „Warum reißt du mich von mir selbst los? rief Marsyas. Ach, es reut mich! Ach, so viel – er schrie es wieder und wieder – ist eine Flöte nicht wert! Während er so schrie, wurde ihm die Haut überall an sämtlichen Gliedern abgezogen. Da war nichts als eine einzige Wunde, überall strömt das Blut, entblößt sind die Sehnen, und unbedeckt schlagen zuckend die Adern. Man hätte die bebenden Eingeweide zählen und im Brustkorb die Lungenflügel erkennen können.“ (Ovid: Metamorphosen 6,386 ff.)


Doch diese schrecklich brutale Strafe Apollons erschütterte alle aus dem Umfeld des Marsyas bis ins Mark und führte zu einem Meer von Tränen, aus dem schließlich der Fluss Marsyas entsprang. „Marsyas beweinten die Götter der Wälder, die ländlichen Faune, dazu seine Brüder, die Satyrn, und sein Schüler Olympos, […]; auch die Nymphen weinten und jeder Hirt, der auf jenen Bergen wollige Herden und Hornvieh weiden ließ. Nass wurde die fruchtbare Erde; doch durchnässt noch fing sie die fallenden Tränen auf und sog sie ein in ihre innersten Adern. Sobald sie sie in Wasser verwandelt hatte, sandte sie sie wieder nach oben. Daher führt Phrygiens klarster Strom, der zwischen steilen Ufern zum brausenden Meer fließt, den Namen Marsyas.“ (Ovid: Metamorphosen 6,393 ff.) Diodor zufolge soll diese grausame Tat Apollon aber schon bald gereut haben. „Nachdem nämlich Apollo, der in diesem Streit gesiegt, den Überwundenen allzu schwer hatte büßen lassen, reute es ihn und er riss die Saiten von der Zither [Kithara] ab und enthielt sich für einige Zeit dieses Spiels.“ (Diodor 5,75)

Dass die Stempelschneider dieses kleinen Bronzenominals darauf verzichteten, die grausame Bestrafung des Marsyas abzubilden, wie etwa der Renaissance-Maler Tizian Jahrhunderte später, und stattdessen den flötetenden Marsyas zeigen, ist verständlich, zumal der Aulosspielende laut Pausanias zur Schutzgottheit von Apameia aufgestiegen war, nachdem er die Stadt 268 v. Chr. vor einem Angriff der keltischen Galater erfolgreich geschützt hatte.

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