Nach der Finanzkrise vor zehn Jahren entwarfen ernst zu nehmende Finanzexperten ein Bild der Welt im Herbst 2015. Griechenland und Portugal, so wurde vorhergesagt, hätten kurzfristig aus der Euro-Zone ausscheiden müssen. Die übrigen Länder erstickten in Schulden. Die Schuldenlawine werde sich schon bis 2015 bedenklich ausgewirkt haben. Geringe Einkommen und hohe Inflation enteigneten die Bürger. Die Experten: „Die Notenbanken hatten zwar zügellos Staatsanleihen aufgekauft und damit die Geldmengen aufgebläht – doch zunächst ohne Folgen. Schließlich stellte sich der Ketchup-Effekt ein: Man schlägt mehrere Male auf den Flaschenboden, nichts kommt heraus. Plötzlich aber entlädt sich die ganze Soße auf den Teller. Die Ketchup-Inflation spritzte zum ersten Mal 2014 in die Wirtschaft. Auf sechs Prozent schoss die Inflation in der Euro-Zone nach oben, inoffiziell sind es sogar fast zehn Prozent.“ (Bert Flossbach, Philipp Vorndran, Die Schuldenlawine, München 2012, S. 7f.).
Die düsteren Voraussagen wurden jedoch allesamt nicht Realität. Angesichts einer weltweit exorbitant hohen Schuldenlast der Staaten, historisch geringer Zinsen und einer Inflationsrate von wenig über Null geben sich viele Wirtschaftswissenschaftler heute eher ratlos. So konnte sich die Modern Monetary Theory zumindest in den USA als Theorie der Stunde etablieren. Ihre Anhänger kritisieren eine vermeintlich falsche Vorstellung von der Funktion des Geldes.
Stephanie Kelton (51), Professorin für Volkswirtschaft an der Stony Brook University in New York, ist eine Vertreterin dieser neuen Theorie. Sie ist Chefökonomin der Partei der Demokraten im Haushaltsausschuss des US-Senats. Sie argumentiert mit dem Funktionieren des gegenwärtigen Geldsystems, das schon so häufig totgesagt wurde. Die Schuldenspirale findet sie nicht übermäßig problematisch. Wenn sich Staaten in der von ihnen ausgegebenen Währung verschuldeten, werde ihnen das Geld praktisch nie ausgehen: „Sie können sich großzügigere Sozialversicherungs- und Bildungssysteme leisten, als uns die Zuchtmeister der Haushaltskonsolidierung weismachen wollen. Wie die immensen Konjunktur- und Stützpakete zeigen, die zur Abfederung der Corona-Krise geschnürt wurden, ist der politische Gestaltungsspielraum viel größer als gemeinhin vermutet. Plötzlich hantiert der Staat mit zuvor unvorstellbaren Summen.“ (Wer soll das alles bezahlen, in: DIE ZEIT, Ausgabe 52/2020, S. 65).
Solange in einem geldpolitisch souveränen Staat ausreichend wirtschaftliche Ressourcen vorhanden seien, ließen sich in schwierigen Situationen auch die Finanzmittel zur Lösung der Probleme auftreiben. Kompliziert werde es erst, wenn das kursierende Geld mit der Zahl der angebotenen Güter und Dienstleistungen nicht mehr Schritt halte: „Dann werden die Produkte und Dienstleistungen teurer, und mein Dollar ist weniger wert. Saugt ein Staat in einer solchen Situation als Steuereintreiber nicht wieder Geld aus einer Volkswirtschaft heraus, steigt der Inflationsdruck.“ (Ebenda). Steuern seien daher wichtig.
In der Frage einer Inflation sieht Kelton mittelfristig durchaus ein Risiko. Allerdings gehe eine exponentiell steigende Geldmenge nicht automatisch mit einer Inflation einher. Schließlich war die Inflationsrate früher, etwa während der Ölkrise von 1974, viel höher als heute: „Der Zusammenhang zwischen Geldschöpfung und Inflation ist längst nicht so eindeutig, wie viele denken. (…) Über die verschiedenen Arten von Inflation und ihre Ursachen wissen wir nach wie vor viel zu wenig. Der wissenschaftliche Kenntnisstand zu diesem Thema ist beschämend.“ (Ebenda).
Wenn man mit so viel Geld wie heute um sich werfe, müsse das Inflationsrisiko aber immer im Visier bleiben. Dies werde angesichts der derzeitigen Situation mit einer Teuerung von unter zwei Prozent allerdings vergessen. Stephanie Kelton hörte in der gesamten Zeit, in der sie im Haushaltsausschuss des US-Senats arbeitet, jedenfalls nicht einmal, dass ein Senator oder einer seiner Referenten das Wort „Inflation“ in den Mund genommen habe. Eine langfristig daran orientierte Geldpolitik sei unerlässlich: „Die Inflation steht bei der Modern Monetary Theorie immer im Mittelpunkt.“ (Ebenda).
Nimmt man die Theorie ernst, kommt der Inflationsgefahr eine erhebliche Bedeutung zu. Im Fall einer Inflation müsste nämlich der Leitzins erhöht werden. Eine Zinserhöhung ist aber wegen der hohen Schulden und der Bremswirkung auf die Wirtschaft heute gefährlicher denn je.
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