Für ihre russischen Angehörigen völlig überraschend, kam Antonina Wassiljewna in Roulettenburg an. Die Ortsbezeichnung dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach für Wiesbaden stehen. Unverzüglich ließ sich die wohlhabende Witwe zum Casino fahren. Dort setzte sie einen Friedrichsdor nach dem anderen auf Zero – und gewann! „Man warf der alten Dame eine in blaues Papier gewickelte versiegelte schwere Rolle mit fünfzig Friedrichsdor zu und zählte ihr noch zwanzig Friedrichsdor hin.“ (Fjodor Dostojewski: Der Spieler, Königswinter 2000, S. 123). Antonina Wassiljewna hatte Feuer gefangen. Wieder setzte sie auf Zero. Das Glück blieb ihr treu, den gesamten Nachmittag über: „Da die Großtante den bedeutendsten Gewinn zu verzeichnen hatte, rechnete man mit ihr ganz besonders aufmerksam und ehrerbietig ab. Sie hatte genau vierhundertzwanzig Friedrichsdor erhalten, das heißt viertausend Gulden und zwanzig Friedrichsdor. Die zwanzig Friedrichsdor zahlte man ihr in Gold, die viertausend Gulden in Banknoten.“ (Ebenda, S. 125). In den kommenden Tagen wendete sich das Blatt jedoch. Am nächsten Tag verspielte die greise Dame beim Roulette etwa 15.000 Rubel, am übernächsten gar 90.000 Rubel!
Der Roman des russischen Schriftstellers aus dem Jahr 1867 erzählt nicht nur vom Niedergang einer wohlhabenden russischen Familie. Er gibt auch Aufschluss über das deutsche Währungssystem vor der Reichseinigung. Währungsmetall war damals das Silber. Im Dresdner Münzvertrag von 1838 wurde ein einheitliches Wertverhältnis zwischen den in Norddeutschland kursierenden Silbertalern und den in Süddeutschland umlaufenden Gulden vereinbart. Danach entsprachen zwei Taler dem Wert von 3 ½ Gulden. Der Wiener Münzvertrag von 1857 bestätigte diese Relation mit geringen Modifikationen. Das Wertverhältnis der für den Einsatz im Casino bevorzugten Goldmünzen zum Silber war veränderlich. Ein Friedrichsdor mit einem Nennwert von 5 Talern hatte nämlich keinen fixen Kurs zum silbernen Kurantgeld. Er wurde an den Börsenplätzen zum jeweiligen Kassenkurs gehandelt. Tatsächlich ausgeprägt wurde der nach Friedrich II. benannte Friedrichsdor von 1741 bis 1855. Danach ist er von der Vereinskrone abgelöst worden, einer neuen Goldmünze nach den Regelungen des Wiener Münzvertrages. In einer Beilage zum 30. Protokoll des Wiener Münzvertrages ist das Wertverhältnis zwischen Krone und Friedrichsdor vermerkt. Außerdem ist dort angegeben, dass aus einem Pfund Feingold genau 82,89142391 Friedrichsdor geprägt wurden. Die Feinheit lag bei 902 7/9. Zur Währungsreform nach der Reichsgründung von 1871 kursierten noch etwa 4,5 Millionen preußische Friedrichsdor und sächsische Augustdor zum damaligen Kurswert von 5 2/3 Talern. Der Einfachheit halber ist die Goldmünze im Roman von Dostojewski mit einem Wert von 10 Gulden angesetzt.
Nach dem turbulenten Auftritt der alten Dame im Casino entschloss sich Alexej Iwanowitsch, ein junger Hauslehrer aus ihrem Familienkreis, das Glück ebenfalls auf die Probe zu stellen. Auch ihm war das Glück zunächst hold. Mit lediglich zwanzig Friedrichsdor setzte er sich an den Roulette-Tisch. Nach drei Runden hatte sich sein Einsatz bereits verzehnfacht: „Man legte mir drei Rollen zu fünfzig Friedrichsdor und zehn Goldstücke hin. Ich besaß also mit dem früheren zweihundert Friedrichsdor.“ (Ebenda, S. 182). Nach einer halben Stunde teilte der Croupier dem jungen Mann mit, dass er 30.000 Gulden gewonnen habe. Damit sei die Bank gesprengt. Alexej Iwanowitsch raffte sein Gold und die Banknoten zusammen und wechselte an einen anderen Tisch. Dort wurde trente-et-quarante gespielt, ein Kartenspiel. Nach etwa fünfzehn erfolgreichen Einsätzen mit rouge erreichte sein Gewinn eine unglaubliche Höhe: „Ich hatte an diesem Abend hunderttausend Gulden gewonnen! (…) Ich griff nach den Banknoten, stopfte sie in die Tasche, raffte mein ganzes Gold, alle die Rollen zusammen und verließ das Kurhaus in aller Eile. Als ich durch die Säle schritt, lachten alle über meine weitabstehenden Taschen und den durch die Schwere des Goldes ungleichmäßigen Gang. Ich glaube, es wog viel mehr als ein halbes Pud.“ (Anmerkung: 1 Pud entspricht 40 russischen Pfund gleich 16 Kilogramm. Ebenda, S. 187).
Letztlich verlor Alexej Iwanowitsch jedoch alles. Er verschuldete sich sogar, landete zeitweise im Gefängnis. Die Hintergründe des unterhaltsamen Romans von Fjodor Dostojewski sind autobiografisch. Der Autor war im Jahr 1862 nach Wiesbaden gekommen, um seine angeschlagene Gesundheit wiederherzustellen. Stattdessen verfiel er der Droge Roulette. Mehrere Jahre hielt die Spielleidenschaft an. Zahllose Nächte verbrachte er in den Casinos von Wiesbaden, Bad Homburg und Baden-Baden. Im August 1865 habe der Wirt im Hotel ihm sogar das Essen verweigert, schrieb er seiner Geliebten Polina Suslowa. Er bat um 150 Gulden, damit „ich diese Schweine bezahlen“ kann (Carmen Eller, Absturz in Roulettenburg, in: Spiegel Geschichte, Heft 1/2012). Sein Roman Der Spieler entstand unter Hochdruck in nur 24 Tagen, nachdem Dosotojewski einen Vorschuss seines Verlegers verspielt hatte. Selbstkritisch registrierte der Schriftsteller einen Wandel seiner Persönlichkeit. Ein früherer Freund erklärte seinem Protagonisten die in kürzester Zeit erfolgte Verwandlung: „Sie sind stumpf geworden. (…) Sie haben sich nicht nur vom Leben losgesagt, von ihren eigenen und den Interessen der Allgemeinheit, von der Pflicht des Bürgers und Menschen, von ihren Freunden (und sie haben doch welche gehabt) – Sie haben nicht nur jedes Lebensziel mit Ausnahme des Gewinnes im Spiel aufgegeben, sondern sogar Ihre Erinnerungen. Ich habe Sie in einem leidenschaftlichen und großen Moment ihres Lebens gekannt; aber ich bin überzeugt, dass Sie Ihre besten damaligen Eindrücke vergessen haben; Ihre Träume, Ihre jetzigen alltäglichen Wünsche reichen nicht weiter, als pair, impair, rouge, noir, die zwölf Mittleren usw., usw. Ich bin ganz überzeugt davon.“ (Ebenda, S. 226). #Dostojewski #DerSpieler #Roulettenburg #Friedrichsdor #Gold #Gulden #Casino #Wiesbaden #DietmarKreutzer
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