Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Friedensverträge die politische Geografie Europas völlig neu geordnet. In Versailles (Vertrag mit Deutschland, Juni 1919), Saint Germain-en-Laye (Vertrag mit Österreich, September 1919), Neuilly (Vertrag mit Bulgarien, November 1919), Trianon (Vertrag mit Ungarn, Juni 1920) und Sèvres (Vertrag mit der Türkei, August 1920) bekamen fast alle der europäischen Staaten neue Gebiete zugesprochen. Andere Staaten wurden zerschlagen oder verloren erhebliche Teile ihrer Territorien. Als neue Staaten wurden Polen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien gebildet. Die lettische Staatsgründung verlief holperig: „Eine aus Emigranten gebildete lettische Sowjetregierung proklamierte im Dezember 1918 ein unabhängiges Lettland und ließ große Teile des Landes durch bolschewistische Truppen (lettische Schützendivisionen) besetzen.“ (ZEIT-Lexikon, Hamburg 2005, S. 604) Der Nationalregierung unter Ministerpräsident Karlis Ulmanis gelang es im Laufe des Jahres 1919 mit Hilfe deutscher und baltendeutscher Freiwilligenverbände, die Kontrolle über den größten Teil des Landes zu gewinnen. Erst mit dem Rigaer Abkommen mit der Sowjetunion vom August 1920 konnte die Unabhängigkeit gesichert werden. Noch im gleichen Jahr kam es zu einer großen Bodenreform. Der deutsch-baltische Grundbesitz von 1.300 Rittergütern, dem 42 Prozent der Landesfläche entsprachen, wurde enteignet.
In den darauffolgenden Jahren erlebte Lettland eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Eine Währungsreform konnte durchgeführt werden: „Lettland, das keine eigene Währung hatte, und vor Wiederaufbauproblemen stand, die relativ größer waren als die jedes anderen Landes, setzte der Inflation im Sommer 1921 ein Ende und wurde eines der ersten Länder, das seine Währung stabilisieren konnte. Zudem gelang dies auch noch ohne Unterstützung von außen. Von den ersten Tagen an wurde in der neuen Republik eine rigorose Steuerpolitik durchgesetzt, wodurch sie in der Lage war, die beginnende Hyperinflation in den ersten Monaten des Jahres 1921 abzublocken. Im Mai 1921 wurden die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen, alle Steuern nach Maßgabe einer neuen Währungseinheit, dem Lat, einzuziehen, der das Äquivalent eines Goldfrancs darstellte.“ (Derek H. Aldcroft: Die zwanziger Jahre, München 1978, S. 160f.) Bei diesem Äquivalent handelt es sich jedoch nicht um den französischen Franc, der infolge des Ersten Weltkrieges entwertet worden war, sondern den schweizerischen Franken. Dessen Goldwert war erhalten geblieben: „Der Lats ist von den ersten drei Buchstaben des Landesnamens abgeleitet, so wie der Name Franc vom Namen Frankreich abgeleitet wurde. Die neue Währungseinheit basierte ausschließlich auf Gold und entsprach 0,2903226 Gramm reinem Gold, was dem Wert eines Schweizer Goldfrankens entsprach. Die Einheit war in 100 Santīms unterteilt, ähnlich wie der Schweizer Franken.“ (Ludviks Ekis: Latvia – Economic Ressources and Capacities, Washington 1943, S. 63)
Die ersten lettischen Münzen erschienen im Jahr 1922. Es waren sechs verschiedene Scheidemünzen aus Bronze bzw. Nickel im Wert von einem Santīms bis zu 50 Santīmu. In den Jahren 1923 und 1925 folgten Stücke zu einem Lats und zwei Lati aus Silber. Komplettiert wurde die Serie im Jahr 1929 durch ein beeindruckendes Fünf-Lati-Stück. Bei einer Ansprache zum 90. Gründungsjubiläum der lettischen Staatsbank erläuterte Jānis Stradiņš vom Ausschuss für Münzdesign die Entstehungsgeschichte dieses Geldstückes: „Im Februar 1929 beschloss das Finanzministerium, dass auf der silbernen Fünf-Lati-Münze, die in der königlichen Münzanstalt in London geprägt werden sollte, ein Mädchenkopf als Symbol für die Republik Lettland und die Freiheit abgebildet werden sollte. Kārlis Zemdega (Baumanis) gewann den von der Akademie der Künste ausgeschriebenen Wettbewerb, aber sein Entwurf wurde nicht realisiert, weil das Mädchen nicht nur technisch gut gezeichnet sein, sondern auch einen unverwechselbaren lettischen Charakter haben sollte.“ (Third rebirth of the 5-lats silver coin, auf: bank.lv, 27. Juli 2013) So wurde der prominente lettische Künstler Rihards Zariņš (1869-1939) engagiert, der Leiter der Wertpapierdruckerei war und bereits mehrere Banknoten gestaltet hatte. Als Modell wählte Zariņš seine Mitarbeiterin Zelma Brauere (1900-1977) aus. Der gezeichnete Entwurf wurde vom britischen Medailleur Percy Metcalfe so meisterhaft modifiziert, dass die Münze zu einem Klassiker wurde.
Die 29-jährige Philologin war wohl die heimliche Liebe des wesentlich älteren Zariņš: „Wie aus einigen Briefen und Widmungen hervorgeht, hegte er Gefühle für die junge Frau, aber ihre Beziehung scheint platonisch geblieben zu sein. […] Zelma arbeitete 43 Jahre lang in der Druckerei; sie beherrschte sieben Sprachen und war eine sorgfältige und verantwortungsbewusste Arbeiterin unter verschiedenen politischen Regimen. Nach ihrer Pensionierung lebte sie in einem Rigaer Vorort zusammen mit ihrer Schwester und blieb alleinstehend. Sie war großzügig, wenn es darum ging, ihren Lieben die Fünf-Lati-Silbermünzen zu schenken, aber sie hasste es, dass die Münze im Volksmund als Milda bezeichnet wurde. Wenn das geschah, wurde sie still im Gespräch oder verließ den Tisch.“ (Ebenda) Im fortgeschrittenen Alter besuchte Zelma gern Veranstaltungen im Haus des Lehrers. Vor dem Gebäude wurde die 77-Jährige eines Abends von einem Motorrad überfahren. Kurz danach wurde sie in ihrer traditionellen Tracht beigesetzt, die auch auf der Münze zu sehen ist. Die Münzen mit ihrem Porträt sind nach der Besetzung des Landes von der Sowjetunion eingezogen worden. Erst nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1991 erlangten sie wieder eine Bedeutung. Sie waren zu einem Zeichen der lettischen Souveränität geworden! Zum zehnten Jahrestag der Wiedereinführung des Lats kam eine Miniaturausgabe des alten Fünf-Lati-Stücks in Gold heraus. Auf den neuen Euro-Münzen nach der Währungsumstellung ist eine von Guntar Sietiņš bearbeitete Fassung des ersten Porträts von Zelma Brauere zu sehen.
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