Seit Kaiser Pedro II. angekündigt hatte, die Sklaverei abzuschaffen, rumorte es in Brasilien. Die Großgrundbesitzer glaubten, auf die kostenlose Arbeitskräfte angewiesen zu sein: „Von 1870 bis 1888, achtzehn Jahre lang, endete jeder Versuch von Pedro, die Abschaffung zu beschließen, in Lamentos und aggressiven Demonstrationen. Sie stellten Pedro als den Kaiser der Neger und Indianer dar, sie drohten mit Bürgerkrieg, und dieser Krieg wird schlimmer als die Schlachten von Paraguay.“ (Gloria Kaiser: Pedro II. von Brasilien, Graz 1997, S. 441). Als der mutlos gewordene Kaiser schwerkrank zu Bette lag, fasste sich seine Tochter Isabel ein Herz. Als Regentin unterzeichnete sie am 13. Mai 1888 das Goldene Gesetz: „Mit dem heutigen Tag der Verkündung des Gesetzes, wird die Sklaverei in Brasilien abgeschafft. Alle anderen, gegenteiligen Dispositionen sind damit ungültig. Isabel, Princesa Imperial Regenta.“ (Ebenda, S. 443). Die Turbulenzen der folgenden Monate nutzte die Armeeführung für einen Putsch. Am Morgen des 15. November 1889 traf die Depesche ein: “Dringend! An seine Majestät. In dieser Nacht haben die Militärs zugeschlagen. Die Ministerien und Minister der kaisertreuen Regierung sind ausgeschaltet.“ (Ebenda, S. 83). Die kaiserliche Familie verließ das Land. Die Republikaner übernahmen die Macht. Das Steuersystem wurde reformiert, das Dezimalsystem eingeführt. Das Währungssystem blieb zwar bestehen, anstelle des kaiserlichen Porträts auf den Münzen prangte nun jedoch das Porträt einer „Liberta“ mit phrygischer Mütze.
Im Schatten dieser Entwicklung hatte sich im Sertao, einer Steppenlandschaft im Nordosten des Landes, eine Kommune der Armen und Rechtlosen gebildet. Ein Prediger namens Antonio Conselheiro (1830-1897) hatte das Gehör vieler Bauern und Landloser gefunden. Der „Ratgeber“ hatte Charisma und verstand es mit Sanftmut und Klugheit, seine Vision einer streng religiösen Kommune zu verbreiten. Mit friedlicher Arbeit in der Landwirtschaft von Canudos wollten die Mitglieder leben, solidarisch geführt, ohne Gewinnstreben. Diese Sprache verstanden auch entflohene Sklaven und schlecht bezahlte Handwerker: „In Canudos versuchten die Einwohner ohne Geld zu wirtschaften. Große Mühen verwendeten sie darauf, die unfruchtbare Gesteinswüste zu erschließen. Da wurden Kanäle gezogen, als sie versuchten, den Boden zu bewässern und zu düngen. Bohnen und Mais sollten wachsen, Zuckerrohr und Melonen gedeihen. Pferde, Schafe und Ziegen begann man aufzuziehen. […] Nach ihrer Ansicht war es die gestürzte Monarchie, die die Sklaverei abschaffte, die Regentin Isabel unterschrieb das Goldene Gesetz!“ (bauernkriege.de/canudos.html). Die Gesetze der Republik, nach denen sie Steuern zahlen und vor einem Standesamt heiraten sollten, lehnten sie strikt ab. Das Geld der Republik erkannten sie nicht an und eigenes Geld gaben sie nicht heraus. Die republikanische Regierung wollte nichts, als sie erneut zu versklaven!
Die Regierung sah in der Kommune einen gefährlichen Widersacher gegen die Zentralgewalt. Eine erste Strafexpedition im November 1896 blieb erfolglos. Der kleine Trupp von Soldaten wurde von den Aufständischen überrannt. Im zweiten Anlauf marschierte schon ein ganzes Korps von über 500 Soldaten auf. Unter hohen Verlusten trugen die Aufständischen erneut den Sieg davon: „Auf einen getöteten Soldaten kamen etwa 100 tote Verteidiger der Siedlung. Aber das Militär verzeichnete selbst viele Verwundete. Wegen schlechter Versorgung hungerten die einfachen Soldaten während der Kämpfe.“ (Ebenda). So war die Niederlage der Staatsgewalt absehbar: „Zerlumpt, waffenlos und vor Hunger schwankend, eine Unzahl von Verletzten mitschleppend, trotteten die Soldaten in die sichere Kleinstadt ein, aus der sie Wochen zuvor mit Marschmusik gegen Halbwilde gezogen waren.“ (Ebenda). An der dritten Strafexpedition nahmen schon 1.300 Soldaten teil. Doch nach dem Sturm auf die Siedlung verweigerten sie sich einem Nahkampf gegen die in einem Höhlensystem verschanzten Bewohner. Erst der vierte Angriff mit 8.000 Soldaten und schwerer Artillerie im Sommer 1897 war erfolgreich. In einem Racheakt wurden die 20.000 Bewohner der Siedlung regelrecht abgeschlachtet.
Der peruanische Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat die Ereignisse anhand von zeitgenössischen Berichten aufbereitet. Kamen neue Pilger nach Canudos, nahm ein Beauftragter ihre Gaben in Empfang. Das in der Kommune ungültige Geld der Republik wurde mit dem abgelegten Schmuck in der Kirche deponiert oder in einer nahegelegenen Stadt in Produkte wie Holz oder Schaufeln getauscht. „Ein ständiges Problem war das unannehmbare Geld der Republik: wer sich erwischen ließ, wenn er dieses Geld bei einem Handel benützte, dem wurde es von den Männern des Ratgebers abgenommen, und er musste Canudos verlassen. Gehandelt wurde mit den Münzen, die den Kopf des Kaisers Dom Pedro oder seiner Tochter, Prinzessin Isabel trugen, aber da es davon nur wenige gab, ging man allgemein zum Tauschhandel mit Waren und Dienstleistungen über.“ (Mario Vagas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt, Frankfurt/Main 1987, S. 74f.). Ein Blick in die Katalogliteratur zeigt allerdings, dass es gar keine Münzen mit dem Porträt der Regentin gab. An einer anderen Stelle des Buches stellt ein Fremder einen Mann aus Canudos zur Rede: „Ich fragte ihn, wie man es in Canudos mit dem Geld hielte, und er bestätigte mir, dass sie nur Münzen mit dem Bild der Prinzessin Isabel akzeptierten, das heißt Münzen des Kaiserreichs, doch da diese Münzen kaum noch in Umlauf seien, verschwinde das Geld mehr und mehr.“ (Ebenda, S. 114).
Das blutige Gemetzel der Regierungstruppen, das Vargas Llosa schildert, ist schwer erträglich. Doch in den Kompanien herrschten Hunger und Not. Selbst während der letzten Expedition gab es noch chaotische Zustände. Ein Offizier berichtete erschüttert über die zunehmende Spekulation: „Anfangs wurde nur der Tabak von Stunde zu Stunde teurer verkauft und weiterverkauft. Erst diesen Morgen hat er einen Kavalleriemajor zwölftausend Reis für eine Handvoll bezahlen sehen. Zwölftausend Reis! Das Zehnfache dessen, was ein Päckchen feinster Tabak in der Stadt kostet. Später sind alle Preise schwindelerregend in die Höhe geklettert, und alles ist Gegenstand überhöhter Forderungen geworden. Da die Essensrationen schmal sind – die Offiziere bekommen ungesalzene grüne Maiskolben, die Soldaten Pferdefutter -, werden für Esswaren phantastische Preise bezahlt: 34.000 Reis für ein Viertel Zicklein, 5.000 für einen Maiskolben, 25.000 für Zuckerkruste, 5.000 für eine Tasse Maisbrei, 1.000 bis 2.000 für eine Imbuzeiro-Wurzel oder einen essbaren Kaktus. Zigaretten werden zu 1.000 Reis gehandelt, eine Tasse Kaffee zu 5.000. Und das Schlimmste ist, dass auch er selbst für Schmuggel anfällig geworden ist. Auch er hat aus Hunger oder aus dem Bedürfnis zu rauchen sein ganzes Geld ausgegeben und 5.000 Reis für einen Löffel Salz gezahlt, einen Artikel, den er erst jetzt als begehrenswert kennengelernt hat.“ (Ebenda, S. 576f.). Der größte Teil dieser Waren kam aus geplünderten Beständen der Armee oder war anderswo geraubt worden! #Brasilien #Sertao #Republikaner #AntonioConselheiro #Sklaverei #KaiserPedroII #PrinzessinIsabel #Militär #Putsch #MarioVargasLlosa #Kommune #Canudos #Reis #Gemetzel #Regierungstruppe #Soldat #Schlacht #Hunger #Armee #Schwarzmarkt #DietmarKreutzer
Comentários