Ebenso wie die deutschen Taler sind die österreichischen Silbergulden ein beliebtes Sammelgebiet. Unter welchen Verhältnissen sie eingenommen und ausgegeben wurden, ist heute aber kaum noch bekannt. Dies trifft vor allem auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu, in welcher zwei Millionen Menschen nach Wien strömten.
Ein bestimmter Text dieser Zeit gilt als wichtige Sozialreportage. Victor Adler, ein Arzt aus dem Alsergrund in Wien, behandelte unentgeltlich Menschen, die sich keine bezahlte Untersuchung leisten konnten. Dabei fiel ihm der schlechte Gesundheitszustand der Arbeiter im Süden von Wien auf. Als Maurer verkleidet, besuchte er im November 1888 die Ziegelwerke der Wienerberger Gesellschaft. In einem berühmten Artikel seiner Zeitschrift Gleichheit schilderte er die Zustände in der Firma. Infolge des Baubooms in Wien florierte das Unternehmen: „Die Wienerberger Ziegelfabrik- und Baugesellschaft zahlt ihren Aktionären recht fette Dividenden. Ihre Aktien, die mit 120 Gulden eingezahlt sind, haben im letzten Jahre nicht weniger als 15 Gulden, das sind 11,7 Prozent getragen. Bei 35.000 Aktien macht das eine hübsche Summe von 490.000 Gulden, welche da ins Verdienen gebracht wurde. Der Reingewinn kommt bekanntlich durch das ‚harmonische Zusammenwirken von Kapital und Arbeit‘ zustande. Die Tätigkeit des Kapitals haben wir geschildert, es hat sich die Mühe genommen, die Coupons abzuschneiden und für diese schwere Arbeit je 14 Gulden einzukassieren.“ (Victor Adler, Die Lage der Ziegelarbeiter, in: Gleichheit, Wien, 1.12.1888, zit. nach: Sozialreportagen 1880 bis 1918; Berlin 1982, S. 45).
Die Arbeiter der Gesellschaft litten dagegen unter unbeschreiblichen Zuständen. Die Ziegelformer etwa waren in „Arbeiterpartien“ zu 70 bis 100 Mann eingeteilt, denen ein Partieführer vorstand. Der Lohn betrug im Sommer zwischen sechs und sieben Gulden pro Woche. Im Winter sank er auf vier Gulden und 20 Kreuzer. Gezahlt wurde jedoch nicht mit „gutem Geld“, sondern mit Blechmarken der Firma:
„Dieses Blech wird nur in den einzelnen Partien zugewiesenen Kantinen angenommen, so dass der Arbeiter nicht nur aus dem Werk nicht herauskann, weil er kein ‚gutes Geld“ hat, sondern auch innerhalb des Werkes ist jeder einem besonderen Kantinenwirt als Bewucherungsobjekt zugewiesen. Die Preise in diesen Kantinen sind bedeutend höher als in dem Orte Inzersdorf. Ein Brot, das in Inzersdorf vier Kreuzer kostet, muss der Ziegelarbeiter mit fünf Kreuzer Blech bezahlen. Ebenso sind Bier, Schnaps, Speck, Wurst und Zigarren in der Kantine entsprechend teurer, die Qualität der Nahrung ist natürlich die denkbar elendeste. Im Gefühl seiner Macht sagte ein Wirt einem Arbeiter, der sich beklagte: ‚Und wenn ich in die Schüssel sch…, müsst ihr’s auch fressen.‘ Und der Mann hat recht, sie müssen!“ (Ebenda, S. 46).
Mit Blechmarken wird auch das Bier nach Feierabend bezahlt: „Wollt ihr euch antrinken, so tut es hier!“ Die Wirte, welche an die Firma einen erheblichen Pachtzins zahlten, versuchten sich so auf Kosten der Arbeiter zu sanieren. Zehn bis 15 Prozent des Gewinnes erhielten die Partieführer. Die Werksleiter tranken gratis. Ihre Arbeitskleidung mussten die Arbeiter beim Partieführer kaufen. Sie war ein Drittel teurer als beim Krämer in Inzersdorf. Wer auswärts kaufte, wurde entlassen! Die Blechwirtschaft in der Firma führte letztlich dazu, dass kaum ein Arbeiter wusste, mit welchem Betrag er aktuell bei seinem Partieführer in der Kreide stand. Auf Nachfrage hieß es in der Regel, dass immer noch eine Rechnung offen sei.
Außerhalb der Firma zu übernachten, war ebenfalls verboten: „Die Partieführer würden aber ihre Sklaven nicht ganz in der Hand haben, wenn diese abends auswärts schlafen gingen. Dabei müssen alle Arbeiter im Werke schlafen. Für die Ziegelschläger (Ziegelformer, A. d. A.) gibt es elende ‚Arbeiterhäuser‘. In jedem einzelnen Raum, sogenannten ‚Zimmern‘ dieser Hütten schlafen je drei, vier bis zehn Familien, Männer, Weiber, Kinder, alle durcheinander, untereinander, übereinander. Für diese Schlafhöhlen scheint die Gesellschaft sich noch ‚Wohnungsmiete‘ zahlen zu lassen, denn der Bericht des Gewerbeinspektors meldet 1884 von einem Mietzins von 56 bis 96 Gulden, der auf dem Wienerberg vorkommt.“ (Ebenda, S. 47).
Ledige schliefen zu 40, 50 oder 70 Personen in einer Baracke mit einem ausrangierten Ringofen. Der zehn Meter lange und acht Meter breite Raum war mit Holzpritschen und Stroh versehen. Decken gab es in dem von Wanzen und Läusen verseuchten Quartier nicht. Dafür mussten die eigenen dreckigen Kleider verwendet werden: „In einem dieser Schlafsäle, wo 50 Menschen schlafen, liegt in einer Ecke ein Ehepaar. Die Frau hat vor zwei Wochen in demselben Raum, in Gegenwart der 50 halbnackten, schmutzigen Männer, in diesem stinkenden Dunst entbunden!“ (Ebenda, S. 48).
Erst sechs Jahre nach Veröffentlichung dieses Berichtes änderte sich etwas an den Lebensbedingungen der Ziegelarbeiter. Im April 1895 kam es zum Generalstreik in den Ziegelwerken südlich von Wien. Nach dem Einschreiten der Polizei waren dreizehn Tote zu beklagen. Dreizehn Personen wurden festgenommen. Letztlich hatte der Ausstand aber Erfolg: Der Werktag wurde auf elf Stunden begrenzt, die Löhne erhöht. Die Sonntagsruhe musste eingehalten werden. Die Kinderarbeit wurde eingeschränkt. Das Blechgeld abgeschafft.
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