Der indische Roman „Eine gute Partie“ (Originaltitel „A Suitable Boy“) ist mit seinen 2.000 Seiten der umfangreichste, der jemals in englischer Sprache erschien. In ihm wird die Geschichte von vier Familien zu Beginn der fünfziger Jahre erzählt. Sie beginnt mit der selbstsüchtigen Meenakshi und einem Griff in die Schmuckschatulle: „Sie nahm die zwei goldenen Medaillen heraus, die Mrs. Rupa Mehra so lieb und teuer waren und die sie Meenakshi zur Hochzeit geschenkt hatte.“ (Vikram Seth, Eine gute Partie, München 1999, S. 109).
Meenakshi wollte sie in Bengali beim Juwelier einschmelzen lassen. Eine Kette und zwei tropfenförmige Ohrringe sollten daraus entstehen. Auf der Vorderseite jeder der Preismedaillen saß ein streng dreinblickender Löwe auf einem Sockel. Auf der Rückseite des einen Exemplars sah sie den eingravierten Schriftzug des Thomason Engineering College Roorkee. Ihr Schwiegervater Raghubir Mehra war als Bester der Ingenieurwissenschaften des Jahrganges 1916 ausgezeichnet worden. Auf der anderen Medaille stand der Namenszug desselben Schülers und derselben Schule, diesmal als Bester der Physik des Jahrganges 1916. Als sie den Laden in der Rashbehari Avenue betrat, zeigte sich der Juwelier von dem Auftrag allerdings überhaupt nicht begeistert: „Madam, das sind wunderschöne Medaillen.“ Liebevoll strich er über die gravierten Löwen und den glatten, ungeriffelten Rand. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, warum geben Sie die Kette und die Ohrringe nicht gegen Bezahlung in Auftrag. Es besteht wirklich keine Notwendigkeit, diese Medaillen einzuschmelzen.“ (Ebenda, S. 111). Meenakshi ließ sich aber nicht beirren. So legte der Juwelier die Medaillen auf die Waage. Es zeigte sich, dass nur eines der Stücke für den Auftrag eingeschmolzen werden musste. Daraufhin warf Meenakshi eine der Medaillen achtlos wieder in ihre Handtasche, zufällig jene für Physik: „Der Juwelier sah mit Bedauern auf die Medaille für Ingenieurwissenschaften, die auf einem kleinen Samtkissen auf dem Tisch lag.“ (Ebenda).
Der indische Schriftsteller Vikram Seth (geb. 1952) macht seine Leser aber nicht nur mit solch interessanten indischen Medaillen bekannt. Er vermittelt auch eine Vorstellung des Währungssystems in den ersten Jahren nach der britischen Kolonialzeit. Die ersten Münzen der Republik wurden bereits im Jahr 1950 geprägt, also im Jahr der Unabhängigkeit. Es handelte sich um ganze und halbe Rupien sowie Viertelstücke aus Nickel. Außerdem erschienen Scheidemünzen zu zwei Annas, einem Anna und einem halben Anna aus Kupfer-Nickel.
Eine Rupie entsprach 16 Annas. Das kleinste Nominal, eine Lochmünze zu einem Pice, wurde durch ein bronzenes Pice-Stück ohne Loch ersetzt. Der Wert von vier Pice entsprach einem Anna. Als der angesehene Sandeep Lahiri auf dem Marktplatz von Rudhia für die Feierlichkeiten am Unabhängigkeitstag sammelt, ist sein Tropenhelm rasch voll: „Manche gaben ihm zwei Annas, andere vier oder acht, manche eine Rupie.“ Die umstehenden Straßenkinder „starrten auf den Schatz, der sich in seinem Helm ansammelte – es waren mehr Münzen als sie je zuvor auf einem Haufen gesehen hatten -, und schlossen Wetten ab, wieviel er insgesamt sammeln würde.“ (Ebenda, S. 1414). Die unvorstellbare Summe von 800 Rupien kam innerhalb einer halben Stunde zusammen!
Geht es um größere Summen, wird der Begriff Lakh benutzt. Ein Lakh entspricht 100.000 Rupien. Bei der Suche nach geeigneten Heiratskandidaten, wird häufig eine schwindelerregende Mitgift eingefordert: „Der vierte Kandidat war der Sohn eines Juweliers, der einen gutgehenden Laden am Connaught Circus unterhielt. Es waren noch keine fünf Minuten ihres Treffens vergangen, als seine Eltern zwei Lakh Rupien als Mitgift forderten.“ (Ebenda, S. 815). In einem anderen Fall ist von Crores die Rede. Ein Crore entspricht 10.000.000 Rupien. Vor Gericht erfährt eine junge Frau, dass der von ihr verklagte Mann über mehrere Crore an Rupien verfügt: „Als das Mädchen, das ihn vor ein paar Minuten am liebsten noch eigenhändig umgebracht hatte, das hörte, begann sie zu keuchen, als wäre sie krank vor Liebe, und sie stürzte sich auf den Richter und bat ihn, den jungen Mann zu verschonen.“ (Ebenda, S. 769). An einer anderen Stelle droht ein hoher Politiker mit dem Entzug materieller Zuwendung. In Indien werden die entsprechenden Drohungen so ausgedrückt: „Ich werde dafür sorgen, dass Sie kein Geld bekommen. Nicht eine Paisa werden sie bekommen. Sie werden schon sehen.“ (Ebenda, S. 1411f.).
Doch was ist aus der Medaille geworden, die jene selbstsüchtige Meenakshi zu Beginn der Geschichte beim Juwelier einschmelzen lassen wollte? Kurz nach dem Besuch in dem Laden war das Haus des jungen Paares in Sunny Park ausgeraubt worden. Sämtlicher Schmuck war verschwunden, zudem die Medaille für Physik. Monate später suchte Rupa Mehra, die Schwiegermutter von Meenakshi, den bewussten Juwelier in Bengali auf: „Mrs. Mehra – war es die Goldmedaille ihres Mannes, die sie mir gegeben hat, um daraus eine Kette und Ohrringe machen zu lassen? Wunderschöne Ohrringe – wie Tropfen?“ (Ebenda, S. 1949). Ja, antwortete Mrs. Rupa Mehra und kämpfte gegen die Tränen. Der Juwelier verschwand daraufhin im Hinterzimmer. Sekunden später kehrte er mit einer roten Schachtel zurück. In ihr lag auf einem Kissen aus weißer Seide die Goldmedaille ihres verstorbenen Mannes, jene für den besten der Ingenieure. Der Juwelier lächelte: „Tatsache ist nun einmal, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie einzuschmelzen.“ (Ebenda, S. 1950).
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