Ende September 1904 war Vera Figner nach zwanzig Jahren Haft in den Kerkern des Zaren in die Freiheit entlassen worden. Die Sitten und Verhältnisse hatten sich während dieser Zeit verändert: „Inmitten all dieser Veränderungen empfand ich mich selber als Anachronismus, als seltene Münze quasi. Diese Münze mochte wohl schon ihr volles Gewicht haben, auch die Prägung mochte nicht gerade schlecht sein, aber nun steckte sie irgendwo in einem Haufen neuer, blanker, kleiner Metallscheiben, die eben erst von der Hand des unermüdlichen Schmiedes, nämlich der Zeit, geprägt worden waren.“ (Vera Figner: Nacht über Russland, Reinbek 1988, S. 415).
Die Tochter eines wohlhabenden russischen Adligen hatte nach einem Medizinstudium in der Schweiz auf einer einfachen Krankenstation der russischen Provinz gearbeitet. Während die Obrigkeit aus der Landbevölkerung die letzten Kopeken herausholte, teilte Vera ihren Monatslohn mit den Ärmsten der Armen: „Es ist peinlich, auszusprechen, dass diese Lebensweise, die natürlich und normal hätte scheinen sollen, im Dorfe wie ein krasser Misston wirkte; durchbrach sie doch jenes System der Ausplünderung und des gewissenlosen Egoismus, das, mit Millionensummen am Throne beginnend, bis hinunter ins Dorf reichte, wo es den Bauern die letzten Pfennige abpresste.“ (Ebenda, S. 64f.). Unter dem Eindruck des Unrechts schloss sich die junge Frau einer Gruppe von linken Revolutionären an, die für eine bessere Welt stritten. Ein Anschlag auf Zar Alexander II. sollte der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen. Nach dem erfolgreichen Attentat auf den Herrscher im Jahr 1881 wurden mehrere Verschwörer zum Tode verurteilt. Vera Figner war nicht darunter. Sie kam für 20 Jahre in einen Kerker der Festung Schlüsselburg. Im Herbst 1904 entlassen, ermöglichten Sympathisanten ihr eine Rückkehr ins Zivilleben. Auf dem Gut des Bruders wurde sie während einer schweren Hungersnot als Sozialarbeiterin tätig: „Im Frühling 1906 hatten unser Dorf und die umliegenden Bezirke im Gouvernement Kasan an Hunger zu leiden, weil im vergangenen Jahr eine Missernte war. Da schickte mir nun die Redaktion von Russkoje Bugatstwo (Russischer Reichtum) 800 Rubel, die ich unter die Hungernden verteilen sollte. Die Pirogowsche Ärztegesellschaft überwies mir etliche hundert Rubel zur Hilfeleistung für Bauern, die kein Pferd hatten, vor allen Dingen für Soldaten, die aus dem Fernen Osten heimgekehrt waren.“ (Ebenda, S. 420). Vor ihrer langen Haftzeit galt in Russland die Silberwährung. Der Rubel und die größeren seiner Teilstücke waren aus Silber. Als Handelsmünzen gab es den goldenen Imperial zu zehn Rubel und einen Halb-Imperial. Mit dem Übergang zum Goldstandard im Jahr 1897 waren Goldmünzen auch für den inländischen Zahlungsverkehr geprägt worden. Zugleich kam es zu einer Abwertung des Rubels um ein Drittel seines Edelmetallgehaltes. Der alte Imperial hatte nun also einen Wert von 15 Rubel, der Halb-Imperial von 7,5 Rubel. Beide Münzen waren mit vergleichbaren Nominalen der Lateinischen Münzunion kompatibel und somit im Außenhandel einsetzbar.
Vera Figner schreibt, dass sie sich faktisch mit einer Handvoll Gold unter Bettler gestellt habe. Jeden Tag seien die Bittsteller gekommen: „Mich belog man, vor mir heuchelte man, und vor mir erniedrigte man sich. Und da ich diese Gedrücktheit, diese Erniedrigung des Nichtbesitzenden vor dem Besitzenden sah, erfuhr ich an mir selber die ganze Gemeinheit der Lage dessen, der Gold in der Hand hat, wenn ringsum Bettelarmut herrscht. […] Ich fühlte die schändliche Macht des Goldes über den Menschen, der sich danach sehnt und lechzt, nur ein Körnchen davon in seine Hand zu bekommen.“ (Ebenda, S. 422). Anhand einer Liste von Notleidenden des Dorfes Nikiforowo und Umgebung sollten Mehl und Hirse verteilt, für den Ankauf von Pferden ein Zuschuss gezahlt werden. In Scharen kam das Volk geströmt! Doch nicht nur Bedürftige meldete sich, sondern sogar vermögende Hofbesitzer. Figner wies sie zurück: „Begreifen Sie doch, ich gebe nur jenen, die kein Brot haben, die nichts zu essen haben. Das Geld ist in Petersburg von gütigen Menschen gesammelt worden, um Hirse zu kaufen, um den Hungernden zu helfen. Sie gehören doch nicht zu den Hungernden, da dürfen Sie auch nicht bitten.“ (Ebenda, S. 432). Kamen zerlumpte Bauern aus den Nachbardörfern, hatte Vera zunächst deren Bedürftigkeit zu ermitteln. Als ein Hungernder um einen Zwanziger für Brot auf den Weg bat, wurde die Frau weich: „Ich holte mein Portemonnaie und gab ihm von meinem Geld zwanzig Kopeken.“ (Ebenda, S. 432). Kurz darauf brannte das Gutshaus, in dem Vera aufgewachsen war: „Im Dorfe war ein Alter, der in dem nicht gerade schmeichelhaften Rufe eines Trunkenboldes und eines ‚Schandmauls‘ stand, wie ihn die Weiber nannten. Schon seit acht Jahren kümmerte er sich nicht mehr um seinen Acker, er pflügte nicht, und er säte nicht, aber er hatte sich als Hirt verdingt. Wie sich herausstellte, war auch er bei mir gewesen, um mich um Geld für ein Pferd zu bitten. Natürlich hatte ich ihm die Bitte abgeschlagen. Um sich zu rächen, hatte er an den Gutshof, der ja nicht mir gehörte und in dem ich auch nicht wohnte, Feuer gelegt.“ (Ebenda, S. 442). Die Güte der Rettung vor einer Hungersnot drohte sich als Bumerang zu erweisen, der plötzlich die Gebende bedrohte! Doch Figner ließ sich nicht entmutigen, reichte sogar vereinzelt Darlehen aus: „Es war Michails Traum, eine Schmiede einzurichten; aber dafür brauchte er vierzig Rubel. Es versteht sich, dass er nie in seinem Leben eine so große Summe in den Händen gehabt hatte. In Anbetracht der Nützlichkeit einer Schmiede für das Dorf, aber auch weil mir Michail gut empfohlen worden war, überlegte ich seinen Herzensplan zusammen mit ihm und gab ihm zunächst zwanzig Rubel zum Ankauf von Holz für den Bau der Schmiede und versprach, ihm die restlichen zwanzig für die Einrichtung später zu geben.“ (Ebenda, S. 444). Vera sah das Geld nie wieder, ebenso wenig wie die 15 Rubel für die Eindeckung des Daches an einem halbfertigen Haus oder die zehn Pud Roggen zu Überbrückung einer Notzeit bis zur nächsten Ernte. Entnervt gab die Idealistin auf. Eine Zeit lang versuchte ihre Schwester noch, das begonnene Hilfswerk fortzusetzen: „Die Zeit für die Flachssaat war gekommen, und die Weiber wandten sich an meine Schwester mit der Bitte, sie möge ihnen Saat geben: Die einen wollte so viel haben, um einen Feldstreifen, der einen Klafter breit war, zu bestellen, die anderen für zwei Klafter. Meine Schwester traf die erforderlichen Anordnungen, und es wurde Flachssaat in den umliegenden Dörfern angekauft; dann sorgte sie dafür, dass die Saat entsprechend den Bedürfnissen der einzelnen zur Verteilung gelangte. […] Kaum war die ganze Flachssaat verteilt, als wir in Erfahrung brachten, dass die Frauen erst ihre eigenen Vorräte meiner Schwester verkauft und sie dann bei ihr für die Aussaat wieder genommen hatten.“ (Ebenda, S. 446). Vera Figner und ihre Schwester waren damit endgültig von der Vorstellung geheilt, dass es auf der Welt nur Gut und Böse gab. Die Unterdrückten und Ausgebeuteten hatten sich als ebenso verschlagen und heimtückisch erwiesen wie die Obrigkeit des Regimes! #Russland #RussischesReich #Zarenreich #Zar #VeraFigner #Armut #Imperial #Rubel #AlexanderIII #NikolausII #HalbImperial #DietmarKreutzer
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