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Dietmar Kreutzer

Goldene Zeiten für Deutschland: Der Boom der Gründerjahre

Am 30. Juni 1871 meldete die Vossische Zeitung, dass ein Geldtransport von neun Eisenbahnwaggons mit 18 Millionen Francs in Berlin eigentroffen sei. Es handelte sich um die erste Rate der Kriegsentschädigung in Höhe von fünf Milliarden Goldfrancs. Die Summe entsprach 1450 Tonnen Feingold. Deren Zahlung hatte Deutschland als Gewinner des Deutsch-Französischen Krieges im Frankfurter Friedensvertrag vom Mai 1871 erpresst. Mithilfe einer internationalen Anleihe gelang es Frankreich, seinen Verpflichtungen in kürzester Zeit nachzukommen. Bereits am 5. September 1873 war die letzte Rate der Kriegsschuld entrichtet: „Fünf Milliarden Goldfrancs oder 1,3 Milliarden Taler – die Zeitungen versuchen mit allen möglichen Hilfsmitteln ihren Lesern zu veranschaulichen, was eine solche Summe bedeutet. In silbernen Fünf-Francs-Stücken bezahlt, so erläutert ein Ökonom, würde sie ein Gewicht von 500.000 Zentner Münzsilber ausmachen, zu dessen Transport 2.500 Eisenbahnwaggons erforderlich wären. Und der Syndikus des Deutschen Handelstages, Alexander Meyer, berechnet, dass die französische Kriegsentschädigung für jeden Deutschen, ob groß, ob klein, den Besitz eines goldenen Teelöffels von zwei Lot Gewicht bedeuten würde. Selbst die Banken müssen sich an den Umgang mit so gewaltigen Summen erst gewöhnen. Betrug doch der geschätzte Geldumlauf im gesamten deutschen Reich 1870 gerade die Hälfte dessen, was nun mit den französischen Milliarden ins Land fließt.“ [1]


Reichskanzler Otto von Bismarck (re.) bei den Verhandlungen zum Frankfurter Frieden 1871 [Wikimedia/Leipziger Illustrierte Zeitung]


Am 3. Juli 1871 stellte Preußen den Ankauf von Silber in den preußischen Münzanstalten ein. Über die Reparationszahlungen beschaffte das Reich das benötigte Währungsmetall zur Einführung eines Goldstandards. Am 10. Oktober 1871 brachte Preußen in den neuen Reichstag einen Gesetzentwurf zur Ausprägung von Reichsgoldmünzen ein. Wolle Deutschland vom Welthandel profitieren, müsse es wie Großbritannien auf der Basis von Gold rechnen. Der Politiker und Bankier Ludwig Bamberger: „Das neue Gesetz betitelt sich in bescheidener Weise nur als Gesetz zur Einführung von Goldmünzen; in Wesenheit soll es wohl aber etwas anderes sein. Es soll sein, die unvermeidliche Vorbereitung zur gänzlichen Regenerierung unseres deutschen Münzsystems.“ [2] Am 24. November 1871 passierte das Gesetz den Reichstag. Die Ausfertigung vom 4. Dezember 1871 sah anstelle des voneinander abweichenden Geldes der Teilstaaten die Mark zu 100 Pfennigen vor. Als Hauptgoldmünze sollte ein Zehn-Mark-Stück geprägt werden. Als international kompatible Goldmünze diente das etwas größere Zwanzig-Mark-Stück. Die Prägungen begannen unverzüglich. Bereits im Dezember 1871 gab es die ersten preußischen Reichsgoldmünzen zu 20 Mark. Ende April 1872 waren schon Goldmünzen im Wert von 600 Millionen Mark für die Gebietskörperschaften Baden, Bayern, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, Preußen, Sachsen, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-Meiningen und Württemberg geprägt.


Preußen. 20 Mark von 1871. 900er Gold, 8,0 g, 22,5 mm [MA-Shops/Münzenhandlung Stücker]


Der Goldstrom fördert das Geschäft. Außerdem entfielen Genehmigungen für Aktiengesellschaften. Ein Fieber brach aus: „Es wurde ‚gegründet‘, was das Zeug halten wollte. Banken mit Protzbauten, Hypotheken- und Produktenbanken, Eisenbahnen und Tapeten, Spinnereien und Leder, Petroleum und Wellblech, Dampfziegeleien und Schiffswerften, Baugesellschaften, Bauvereine und Immobilien: alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde ‚gegründet‘. Und alle, alle flogen sie ans Licht, und alle tanzten mit in dieser Hetzgaloppade um das angebetete goldene Kalb: der gewitzte Kapitalist und der unerfahrene Kleinbürger, der General und der Kellner, die Dame von Welt, die arme Klavierlehrerin und die Marktfrau, man spekulierte in den Portierlogen und in den Theatergarderoben, in dem Atelier des Künstlers und in dem stillen Heim des Gelehrten, der Droschkenkutscher auf dem Bock und ‚Aujuste‘ in der Küche verfolgten mit Sachkenntnis und mit fieberndem Interesse das Emporschnellen der Kurse. Die Börse feierte Hausse-Orgien, Millionen, aus dem Boden gestampft, wurden gewonnen, der Nationalwohlstand hob sich zu scheinbar ungeahnter Höhe.“ [3] Die Einweihung der Siegessäule am 2. September 1873 auf dem Berliner Königsplatz setzte dem Siegestaumel die Krone auf. Das Denkmal mit der Victoria an der Spitze feierte nicht nur drei gewonnene Kriegen, sondern kündete von einem Triumph ohne Ende. Prächtige Silbermedaillen mit dem Porträt des Kaisers bejubelten das Ereignis.


Gedenkmedaille zur Einweihung der Siegessäule. Berlin, 1873. Silber, 101,7 g, 61 mm

[Staatliche Museen zu Berlin]


Mit dem „Gründerkrach“ folgte der Katzenjammer. Der Zusammenbruch ging von Wien aus, wo die Immobilienspekulation besondere Blüten getrieben hatte. Im Frühjahr 1873 begannen die Kursstürze am Wiener Aktienmarkt. Im September 1873 kam es zu einer Pleitewelle in New York. Die Börse musste zeitweilig geschlossen werden. Einen Monat später griff die Panik auf Berlin über. Eine Stadtchronik fasst unter dem Datum des 28. Oktober 1873 zusammen: „Ein Kurssturz der Wertpapiere an der Berliner Börse führt zu einer schweren Wirtschaftskrise im Deutschen Reich, die ihren Höhepunkt in Berlin erreicht. Wegen der Vielzahl der Betriebsgründungen ist Berlin am heftigsten von Überproduktion und Kapitalmangel betroffen. In allen Wirtschaftsbereichen kommt es zu Absatzschwierigkeiten, die besonders junge Bauunternehmen und chemische Betriebe in kurzer Zeit in den finanziellen Ruin stürzen lassen. 28 Bankhäuser melden Konkurs an.“ [4] Die Krise führte zu einem massenhaften Bankrott neugegründeter Aktiengesellschaften. Die Berliner Zeitungen berichteten über Totalverluste unter Privatpersonen und Selbstmorde von Unternehmern. Innerhalb von wenigen Jahren erwiesen sich 700 von 900 der neuen Gesellschaften als zahlungsunfähig. Der Kurswert der übrigen halbierte sich. Im Anschluss an den Gründerkrach kam es zu einem weltweiten konjunkturellen Einbruch. Produktion und Absatz gingen massiv zurück. Die Preise fielen. Die Phase der Depression dauerte bis zum Ende des Jahrzehnts.


Beginn des Gründerkrachs am 9. Mai 1873 in Wien [Wikimedia/Nightflyer]


Quellen

  1. Panorama einer Metropole: Berlin wird Kaiserstadt. Berlin 1993, S. 85.

  2. Ludwig Bamberger: Rede über die deutsche Münzeinheit, gehalten im Zollparlament am 5. Mai 1870; in: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin 1900, S. 185.

  3. Berlin wird Kaiserstadt, S. 88.

  4. Chronik Berlin. Gütersloh 1997, S. 239 .

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