Im vierten Band seines Mammutwerkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ lässt Marcel Proust erkennen, was Armut bedeutet. Den jungen Morel lässt er in einem Dialog mit seinem Gönner Charlus sagen: „Meine Güte, ich habe keine Kapitaleinkünfte wie Sie, ich muss Karriere machen, dies ist die Zeit, die Sous zu machen.“ (Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 4 – Sodom und Gomorrha, Stuttgart 2015, S. 660). Die Violinstunde, die Morel am gleichen Tage zu geben beabsichtigte, sollte zwei Louis d’or einbringen, was 40 Francs entsprach. Das war eine Menge Geld, denn schließlich mögen „die zwei Louis, die ihm zum Abschluss ein Schüler aushändigte eine andere Wirkung auf ihn gehabt haben als zwei Louis, die aus Monsieur de Charlus‘ Hand niederregneten. Denn auch der reichste Mann würde für zwei Louis Kilometer zurücklegen, die zu Meilen werden, wenn man der Sohn eines Kammerdieners ist. (Ebenda).
Marcel Proust selbst gehörte der Oberschicht an. Sein Vater war ein berühmter Mediziner, seine Mutter kam aus einer Familie von Bankiers. In die Ehe hatte sie 200.000 Francs an Mitgift gebracht. Für Geld arbeiten zu müssen, hatte Proust nie gelernt. Seiner Haushälterin berichtete der Schriftsteller, wie er als Jugendlicher dem Kutscher der Familie sorglos ein Trinkgeld zugesteckt habe: „Als ich mich umdrehte, hatte Papa den Blick auf meine Hand gerichtet und fragte mich, wieviel Trinkgeld ich gegeben habe. ‚Fünf Francs‘, sagte ich. Da ist er in Wut geraten. Und zu guter Letzt hat er mir die Worte entgegengeschleudert: ‚Denke daran, Marcel: ich sage dir voraus, dass du im Elend sterben wirst!‘ Er hat es mir oft wiederholt.“ (Céleste Albaret: Monsieur Proust, München 1978, S. 152). Auch die Mutter war besorgt. Als der kleine Marcel mit seinem Bruder eine Verwandte besuchte, schärfte sie ihm ein: „Hier ist ein Fünf-Francs-Stück für jeden von euch. Wenn ihr hinkommt und Marie, das Mädchen, euch die Tür aufmacht, wünscht ihr ein gutes neues Jahr und gebt ihr euer Geldstück.“ (Ebenda, S, 153). Auf dem Weg zu Madame, erblickte Marcel aber einen Schuhputzer, der frierend am Wegesrand stand. Voller Mitleid blieb er stehen und ließ sich die Schuhe putzen. Zum Lohn gab er ihm die Münze. Als Mutter fragte, ob ihr Ältester brav die fünf Francs übergeben habe, beichtete Marcel. Seine Haushälterin sagte oftmals zu ihm: „Monsieur, es ist ihr Glück, dass sie reiche Eltern hatten, denn wenn sie arm geboren worden wären, frage ich mich, wie sie durchs Leben gekommen wären.“ (Ebenda, S. 130).
Mit zunehmendem Alter wurden die Summen, mit denen Proust um sich warf, immer größer. Zur Spekulation neigte der Autor jedoch im Allgemeinen nicht: „Ein einziges Mal hat er eine für die damalige Zeit große Summe – achthunderttausend Francs – durch Börsenspekulationen verloren. Das war vor dem Krieg. Es war ein Grund, aufgeregt zu sein; und er war es auch. Es war in diesem Zusammenhang, dass er mir gegenüber den Ausspruch seines Vaters erwähnte: ‚Papa behauptete, ich würde als Bettler sterben; ich glaube, er hatte recht.‘ Aber er lachte dabei, und zu mir hat er nicht gesagt, er sei ‚ruiniert‘. Tatsächlich war er vor allem wütend auf einen seiner Vermögensverwalter, der ihn zu diesem Börsencoup verleitet hatte.“ (Ebenda, S. 226).
Um ermessen zu können, welchen Wert damals das Geld in Frankreich hatte, muss man sich verdeutlichen, dass die Haushälterin Céleste einen Tageslohn von lediglich vier Francs erhielt. Waren des täglichen Bedarfes bekam man bereits für ein paar Sous. In seinem Buch „Der Gefangene“ hat Marcel Proust die Rufe von Pariser Straßenhändlern wiedergegeben: „Strandschnecken, zwei Sous eine Strandschnecke!“ und „Frische Schnecken, schöne Schnecken, nur sechs Sous das Dutzend!“ (Ebenda, S. 292). Der Franc war in 100 Centimes geteilt. Die alte Bezeichnung „Sous“ wurde landläufig für eine Münze von fünf Centimes benutzt. Das Währungssystem basierte auf Gold und Silber. Vor dem Ersten Weltkrieg war der Wert eines Franc auf 0,29 Gramm Gold bzw. 4,5 Gramm Silber fixiert. Daraus ergab sich ein Wertverhältnis der beiden Metalle von 1:15,5. Die Herstellung vollwertiger Münzen zu fünf Francs war wegen des sinkenden Silberpreises jedoch Ende des 19. Jahrhunderts eingestellt worden. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurden somit nur noch silberne Scheidemünzen mit Nennwerten von zwei Francs und niedriger ausgeprägt. Während des Krieges ist aber sogar dieses Silbergeld gehortet worden. Als Proust seinerzeit das mit Silberlamé gewirkte Kleid einer feinen Dame bewunderte, reagierte diese schnippisch: „Das ist Frankreichs letztes Silber.“ (Ebenda, S. 136). Die Dame war die Frau des Finanzministers!
So erwies sich ein Trinkgeld, das Haushälterin Céleste einmal inmitten des Krieges ausgab, als wahrer Schatz. Sie hatte es einem Polizisten zugesteckt, der ihr den Weg zeigte: „Ich habe aus dem Portemonnaie ein Fünf-Francs-Stück genommen und es ihm gegeben.“ (Ebenda, S. 111). Dass ein so hohes Trinkgeld unüblich war, fiel selbst dem ahnungslosen Proust auf: „Er ist in ein unbändiges Lachen ausgebrochen und konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Noch jahrelang, ich weiß nicht wie oft, hat er, wenn ich wieder einmal die ‚Botin‘ spielte, zu mir gesagt: ‚Und vergessen Sie nicht, Céleste, dem Wachtmeister fünf Francs zu geben!‘“ (Ebenda). #Frankreich #Trinkgeld #MarcelProust #AufDerSucheNachDerVerlorenenZeit #5Francs #2Francs #Francs #Silber #Sou #Centimes #Straßenhändler #DietmarKreutzer
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