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Michael Kurt Sonntag

Ein milesischer Goldstater, der ikonographisch etwas aus dem Rahmen fällt

Am 7. September 2024 wurde in der Schweiz, genauer gesagt bei der Leu Numismatik AG, ein äußerst seltener Goldstater von Milet (griechisch Miletos) versteigert. Laut Auktionshaus handelt es sich dabei um das vierte bekannte Exemplar. Dieser milesische Goldstater zeigt vorderseitig den belorbeerten Kopf des Gottes Apollon mit geschultertem Bogen und Köcher nach rechts hin und rückseitig einen nach rechts schreitenden bzw. im Schreiten verharrenden Löwen mit zurückgewandtem Kopf. (Abb. 1)

Abb. 1: Milet (Ionien). Stater (150–130 v. Chr.), Gold, 8,51 g, Ø 20 mm, Münzstätte Milet. [Bildquelle: Leu Numismatik AG (CH), Web Auktion 31 (7. September 2024), Los 524]


Über dem Löwen findet sich ein achtstrahliger Stern, rechts von ihm das Stadtmonogramm aus M und I, darunter ein weiteres Monogramm aus I und Σ und im Abschnitt das Wort ΕΥΜΗΧΑΝ[ΟΣ]. Dieses steht für den Beamten, unter dem die Goldmünze geprägt wurde. (Vgl. Wolfgang Leschhorn: Lexikon der Aufschriften auf griechischen Münzen, Bd. II: Ethnika und „Beamtennamen“, Wien 2009, S. 507) Was die Bildmotive dieses Goldstaters betriftt, so sind sie keineswegs Neuschöpfungen, sondern, wie vielfach bekannt sein dürfte, von älteren Prägungen Milets entlehnt. Schließlich finden sich sowohl der nach rechts gewandte belorbeerte Apollonkopf als auch der nach rechts schreitende und zurückblickende Löwe auf milesischen Silber- und Bronzemünzen des 3. Jahrhunderts v. Chr. (Abb. 2 und 3)

Abb. 2: Milet (Ionien). Hemidrachme (259–246 v. Chr.), Silber, 2,47 g, Ø 16 mm. Münzstätte Milet. [Bildquelle: The Coin Cabinet Ltd, Ancients Auction 12 (22. August 2024), Los 51]

Abb. 3: Milet (Ionien). AE (250–200 v. Chr.), Bronze, 4,09 g, Ø 18 mm. Münzstätte Milet. [Bildquelle: Roma Numismatics Ltd, E-Sale 114 (23. November 2023), Los 316]


Aber diese silbernen und bronzenen Apollonköpfe und Löwendarstellungen des 3. vorchristlichen Jahrhunderts sind nicht die frühesten ihrer Art in Milet. Um die Mitte 4. Jahrhundert v. Chr., genauer gesagt ab 353/52 v. Chr., emittierten die Milesier nämlich ihre ersten autonomen Silber-Tetradrachmen mit Apollonkopf im Avers und schreitendem bzw. im Schreiten verharrenden Löwen im Revers. (Abb. 4)

Abb. 4: Milet (Ionien). Tetradrachmon (352–340 v. Chr.), Silber, 14,91 g, Ø [Höhe] 23,45 mm. Münzstätte Milet. [Bildquelle: Münzen & Medaillen AG (Münzbörse Basel 2003)]


Dies war der Tatsache geschuldet, dass Milet zu Beginn des 4. Jhs. v. Chr. noch keine Autonomie in der Münzprägung besaß, da sich die Stadt im Einflussbereich der karischen Satrapen befand. „Eine autonome milesische Münzprägung kann deshalb erst nach dem Tod des Maussollos, also nach 353/2 v. Chr. wieder einsetzen.“ (Deppert-Lippitz: Die Münzprägung Milets vom vierten bis ersten Jahrhundert v. Chr., Aarau, Frankfurt a. M., Salzburg 1984, S. 14) Allerdings waren sowohl der Kopf des Apollon als auch der Löwe ursprünglich nach links und nicht nach rechts gewandt. Aber um welchen Apollon handelt es sich hier und was hat es mit dem Löwen auf sich?


Nun, der Apollon, dem die milesischen Münzen gedachten, war der Delphische Apollon (griechisch Apollon Delphinios). Was den Löwen angeht, der die Rückseiten dieser milesischen Silber-, Bronze- und Goldmünzen schmückt, so ist er eine rein milesische Schöpfung. Zwar nicht völlig neu, was das Motiv als solches betrifft – gab es doch schon auf den ersten Elektronstateren Milets (um 600-550 v. Chr.) einen Löwen mit nach rückwärts gewandtem Kopf, allerdings lagerte jener, während der Löwe aus Abb. 1, 2, 3 und 4 majestätisch nach links oder rechts schreitet, bzw. im Schreiten verharrt und seinen Kopf nach rückwärts wendet. Zudem weist der „neue“ Löwe sorgfältig ausgearbeitete Muskelpartien, kräftige Pranken, eine zottelige Mähne und einen zum S geformten Schwanz auf, was ihn insgesamt betrachtet, äußerst kraft- und würdevoll erscheinen läßt – vielleicht sogar ein wenig wild, zumindest aber Respekt einflößend. Warum dieser Löwe seinen Kopf allerdings nach rückwärts wendet, konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden. Für die einen blickt der Löwe auf das „sonnenartige“ Gestirn über ihm – bloß dass der Stern über ihm eigentlich kein Gestirn ist, sondern die verkleinerte milesische Rosette, die zugegebenermaßen der Einfachheit halber manchmal auch als achtstrahliger Stern widergegeben wird. Für die anderen ist die gesamte Rückseitendarstellung ein Hinweis auf das Sternbild des Löwen.


Berücksichtigt man jedoch, dass schon der Löwe von den frühen milesischen Elektronstateren nach rückwärts blickt – ich erwähnte es bereits –, ohne dass es einen Stern oder eine Rosette über bzw. hinter ihm gibt, dann ist es auch denkbar, dass es zwischen dem sich umwendenden Löwen und dem sogenannten „Stern“ gar keinen Bezug geben muss. Wenn die milesischen Auftraggeber der Münze trotz allem aber gerade auf diese Darstellung des Löwen Wert legten, so kann dies nur bedeuten, „dass sie ein bestimmtes, vermutlich wesentlich älteres Vorbild vor Augen hatten, das ihnen wohl vertraut war.“ (Deppert-Lippitz: a.a.O., S. 19) Vergegenwärtigt man sich ferner, dass der Löwe ein dem Apollon heiliges Tier war, dass beiderseits der Hafeneinfahrt, an dem sich der Tempel des Apollon Delphinios befand, Löwenstatuen aufgestellt waren und dass auch an der Strasse, die von Milet zum Apollontempel von Didyma führte, zahlreiche Marmorlöwen standen, dann wird vielleicht noch besser verständlich, weshalb die Milesier diesen Münztyp – Apollon auf der einen und Löwe auf der anderen Seite – gut zwei Jahrhunderte unverändert beibehielten.


Doch wenngleich die hier abgebildeten Münzen im Prinzip auch ikonographisch motivgleich erscheinen, wenn man einmal von der Rechts- oder Linkswendung der Bildmotive absieht, so weicht die Ikonographie des Goldstaters in einem Punkt dennoch stark ab. Anders als auf den Silber- oder Bronzemünzen trägt Apollon auf dem Goldstück nämlich einen geschulterten Bogen und Köcher, der auf den übrigen Münzen fehlt und auch auf allen anderen milesischen Silber- und Bronzemünzen mit Apollon nicht vorkommt. Dies ist sehr ungewöhnlich, zumal Bogen und Köcher in der Numismatik Attribute der Göttin Artemis sind und Artemis auf Münzen fast ausnahmslos mit geschultertem Bogen oder Köcher erscheint. Apollon dagegen stets nur mit Lorbeerkranz. Da laut Deppert-Lippitz „Artemisköpfe mit Lorbeerkranz im Haar in der Antike nicht üblich sind, ebensowenig wie Apollonköpfe mit einem Bogen hinter dem Nacken“ (Deppert-Lippitz: a.a.O., S. 123), spricht die Numismatikerin diesem Goldstater die Echtheit ab. Sie ergänzt aber in der dazugehörigen Fußnote: „Als seltene Ausnahmen seien die Darstellung einer bekränzten Diana auf einer römischen Gemme in Hannover, … und eines Apollonkopfes mit Bogen im Nacken auf einer Gemme in München, … genannt.“ (Deppert-Lippitz: ebenda)


Anders der Numismatiker P. Kinns in „The Coinage of Miletus“ (1986) sowie die Experten des Auktionshauses Leu Numismatik AG, die diesen Goldstater ebenso wie die übrigen der Serie für absolut echt halten und u. a. auf Münzabnutzung, existierende feine Stempelbrüche und möglicherweise sogar rückseitige Überprägungsspuren verweisen.


Vergegenwärtigt man sich zudem, dass Apollon genauso wie seine Schwester, die Jägerin Artemis/Diana, ein ausgezeichneter Bogenschütze war, der den berüchtigten Drachen Python mit seinen Pfeilen erledigte, die Kinder der Niobe zusammen mit seiner Schwester aus Rache an Niobe mit Pfeil und Bogen niederstreckte und mit seinen silbernen Pfeilen sogar die Pest ins Lager der Griechen vor Troja gesandt hatte, dann gehören Pfeil und Bogen letztlich ebenso zu diesem Gott, wie zu Artemis/Diana. Dass der Stempelschneider der milesischen Goldstatere das Apollonporträt entgegen der langjährigen Tradition plötzlich abändert und den Gott mit geschultertem Köcher und Bogen zeigt, mag zwar ungewöhnlich erscheinen, darf aber letztlich nicht als unmöglich angesehen werden, schließlich lagen zwischen dem Apollon des Tetradrachmons aus Abb. 4 und dem Apollon des Goldstaters aus Abb. 1 gut 200 Jahre Münzprägung. Und wer weiß, vielleicht wollte man die besagten Goldstatere gerade durch die neuen „Attribute“ des Apollon ikonographisch aus der Masse der existierenden Apollonköpfe herausheben.


Michael Kurt Sonntag

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