Im Februar 1918, also noch während des Ersten Weltkriegs, hatte sich Estland für unabhängig erklärt. Lange Zeit musste sich der junge Staat jedoch gegen die Übergriffe deutscher und sowjetischer Truppen verteidigen. Das Kriegsende wurde am 2. Februar 1920 mit dem Frieden von Dorpat besiegelt. „Für alle Zeiten“ erkannte Sowjetrussland die Unabhängigkeit von Estland an. In diesem Vertrag verpflichtete sich Russland, 15 Mio. Goldrubel an die Esten zu übergeben. Die Summe entsprach dem estnischen Anteil an den ehemaligen russischen Staatsreserven. 8 Mio. Rubel sollten innerhalb eines Monats nach Ratifizierung des Vertrages geliefert werden, die übrigen 7 Mio. innerhalb zweier Monate.
Unterzeichnung des Friedensvertrags von Dorpat durch den estnischen Verhandlungsführer Jaan Poska [Wikimedia, Lomp]
Im Museum der Estnischen Bank werden die Umstände der Übergabe in allen Details geschildert: „Das Gold wurde über eine Strecke transportiert, die durch einige der im Krieg am stärksten beschädigten Gebiete führte, in denen Brücken und Straßen noch nicht repariert waren oder noch nicht einmal existierten. Die russische Bahn endete in Jamburg (heute Kingissepp), die estnische Bahn im Dorf Komarowka. Die Entfernung zwischen den beiden Bahnhöfen betrug fast 16 km und musste zu Pferd zurückgelegt werden. Das 9. Regiment hatte die Aufgabe, die ehemalige Front und die neue Landesgrenze zu verteidigen, die damals östlich von Narwa verlief. General Aleksander Tönisson befahl dem 9. Regiment, die 6,2 Tonnen Gold von Jamburg nach Komarowka zu transportieren, wo ein von Tallinn abgehender Sonderzug wartete.“[1]
Das Gold in 5-Rubel-Münzen wurde den Esten in hölzernen Munitionskisten übergeben. In Tallinn wurden die Goldmünzen gewogen, gezählt und in Säcke umgepackt: „Einen Monat später, Mitte April, traf die zweite Goldlieferung ein – weitere 7 Mio. Goldrubel. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Behelfsbrücken entlang der ehemaligen Front errichtet worden und das Gold wurde per Bahn angeliefert. Die Lieferung der zweiten Ladung war einfacher und erregte weniger Aufmerksamkeit. Das Gold wurde schließlich in einem Stahltresor in der Talrahva Pöllupank (Agrarbank) eingelagert. Die drei Schlüssel zu dem Tresor erhielten drei vertrauenswürdige Beamte.“[2]
Transport des estnischen Anteils russischer Goldreserven nach Tallinn, Frühjahr 1920 [Eesti Pank, Autor]
Die Übergabe war nur einer der Goldverluste der Sowjets in jenen Jahren. Zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution von 1917 hatten die russischen Goldreserven noch einen Umfang von 1,1 Mrd. Goldrubel: „Hiervon wurden auf der Basis des Friedensvertrages von Brest-Litovsk 120 Mio. Goldrubel an Deutschland als Kontribution gezahlt. Ein Teil des Goldes im Wert von 250 Mio. Goldrubel ging im Bürgerkrieg verloren. Doch immer noch verblieb den Bolschewiki eine beachtliche Goldreserve, deren größter Teil aus Halbimperialen (goldenen Fünf-Rubel-Münzen) bestand.“[3]
Auszählen der russischen 5-Rubel-Stücke nach der Ankunft in Tallinn, Frühjahr 1920 [Eesti Pank, Autor]
Neu hinzu war beschlagnahmtes Gold von Angehörigen der bisherigen Oberschicht sowie der Kirche gekommen. Nach dem Bürgerkrieg versuchten die Sowjets, für den Ankauf von Waffen und anderen dringend benötigten Güter dieses Gold abzustoßen: „In Russland herrschte während und nach dem opferreichen Bürgerkrieg wirtschaftliches Chaos. […] Zusätzlich gab es eine schwere Dürre. Als Folge verfügten Arbeiter und Angestellte nicht über ausreichende Lebensmittelrationen. Das Wirtschaftsleben geriet fast vollständig ins Stocken. Züge fuhren nicht mehr, ein großer Teil der Fabriken war wegen des Mangels an Energieträgern geschlossen oder wurde nur in reduziertem Umfang in Betrieb gehalten. Doch am schlimmsten, zumindest aus Sicht der Bevölkerung, war die Hungersnot 1921/22, von der 29 Millionen Menschen betroffen waren, von denen wohl wenigstens fünf Millionen starben.“[4]
Einem Verkauf der Goldreserven stand jedoch eine Handelsblockade der Westmächte gegen die Sowjets im Wege. So verfiel Isidor Gukowski, der sowjetische Volkskommissar für Finanzen, auf die Idee, das unabhängige Estland zum „Waschen“ des Goldes zu benutzen. Benötigten die Sowjets eine Warenlieferung, schickten sie Gold nach Tallinn, wo es gegen hohe Gebühren in Schwedische Kronen oder Britische Pfund Sterling getauscht wurden. Mit dem so „gewaschenen“ Gold konnten die Russen die bestellten Güter bezahlen. Die Geschäfte warfen für die Beteiligten ungeheure Provisionen ab. Einige Bankiers wurden auf diese Weise zu Millionären. Bald beteiligte sich auch der estnische Staat an den Transaktionen. Russische Goldmünzen wurden in Kisten der Staatsbank verpackt und als Teil der von den Sowjets im Frieden von Dorpat erhaltenen Goldreserve deklariert. Agenten der estnischen Staatskasse kauften sogar selbst Gold in Russland billig auf. Ein Agent berichtete im Juli 1920 an den Finanzminister, in welchem Umfang er Gold und Brillanten erwerben konnte, das mit der Diplomatenpost nach Tallinn geschickt wurde.
Russland, 5 Rubel (1902). 900er Gold, 4,3 g, 18,5 mm [Künker, Herbst-Auktionen 2016/6347]
Welche Ausmaße die Geschäfte annahmen, lässt sich heute anhand der vorliegenden Unterlagen nicht mehr genau feststellen. In den Papieren des sowjetischen Kommissariats für Finanzen wird eine Summe von 598,2 Mio. Goldrubel genannt, die über Estland transferiert wurden. Von estnischer Seite kommt eine andere Zahl: „Im Mai 1922 gab der estnische Finanzminister Georg Westel, der ebenfalls über genaue Angaben verfügen musste, dem britischen Konsul Peter Leslie bekannt, dass das russische Gold, das über Estland transferiert wurde, 683,5 Millionen Goldrubel wert sei, und ergänzte die exaktere Verteilung der Goldmünzen: 595,9 Millionen russische Rubel, 120,5 Millionen Mark, 49 Millionen französische Francs, 1,35 Millionen US-Dollar, 724.000 Pfund Sterling, 35.000 schwedische Kronen, vier Millionen japanische Yen usw., insgesamt also für 683,5 Millionen Goldrubel Münzen.“[5]
Diesen Angaben lässt sich entnehmen, dass sich die russischen Goldreserven nicht ausschließlich aus inländischen Goldmünzen zusammensetzten, sondern anteilig auch ausländisches Gold umfassten. Es kann davon ausgegangen werden, dass infolge dieser Transaktionen schon zu Beginn der 1920er Jahre die gesamten Goldreserven der Sowjets bis auf den letzten Rubel ausgegeben waren.
Anmerkungen
Goldtransporte nach Estland. Museumstafel der Eesti Pank in Tallinn.
Ebd.
Jaak Valge, „Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Das Gold der Bolschewiki in Estland 1920–1922 und die Folgen“, in: Estland und Russland – Aspekte der Beziehungen beider Länder. Hamburg 2005, S. 167.
Ebd., S. 169.
Ebd., S. 178.
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