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Michael Kurt Sonntag

Die „Würfel“ spielende Nymphe

Auf dem Gebiet von Thessaliotis hatten aiolische Griechen eine Stadt gegründet, die sie nach der Nymphe des nahe gelegenen Flusses Arna tauften. Nachdem die dorischen Thessaler jedoch in das Gebiet einwanderten, flohen die aiolischen Griechen von Arna südwärts und siedelten sich in Boiotien an und wurden so zum „Stamm“ des boiotischen Volkes. Die dorischen Thessaler dagegen übernahmen Arna und benannten dies in Kierion um. Über Kierions frühe Geschichte wissen wir wenig, außer dass es in einer Ebene lag und von einer Umfassungsmauer und einer befestigten Akropolis geschützt wurde. Aus Inschriften wissen wir zudem, dass die Stadt Heiligtümer für Artemis, Herakles und Poseidon Kouerios beherbergte.

Nach der Schlacht auf dem Krokosfeld (353/52 v. Chr.) fiel Kierion zusammen mit dem Rest der Thessalischen Liga in den Herrschaftsbereich Philipps II. von Makedonien und blieb von zwei kurzen Phasen abgesehen – 323-322 v. Chr. und 219-218 v. Chr. – makedonisch bis zum Ende des zweiten Makedonischen Krieges mit Rom (200-197 v. Chr.), als es der römische Konsul Titus Quinctius Flaminius von der makedonischen Herrschaft befreite. 146 v. Chr. wurde Kierion zusammen mit der Thessalischen Liga allerdings der römischen Provinz Macedonia einverleibt.


Zu den ersten Münzen, die man in Kierion um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. (550-540 v. Chr.) prägte, gehörten silberne Hemidrachmen bzw. Triobole aiginetischen Fußes (Stater = um 12,2 g), die vorderseitig den Kopf der Athena und rückseitig einen Pferdekopf aufwiesen und damit dieselben Münzmotive zeigten wie die Münzen aus Pharsalos. Zwischen 400 und 370 v. Chr. verausgabte man zwar erneut Hemidrachmen im selben Standard, allerdings mit neuen eigenständigen Münzmotiven. Jetzt trugen diese den belorbeerten, bärtigen Kopf des Zeus auf ihren Vorderseiten und die nach rechts kniende „Würfel“ spielende Nymphe Arna auf den Rückseiten. Die Münzlegende lautete dabei auf KIE/RIAI/ON ([Münze] der Kierioner). (Abb. 1)


Kierion (Thessalien). Hemidrachme (um 400-370 v.Chr.), Silber, 2,66 g, 14 mm, Münzstätte Kierion. [Bildquelle: Nomos AG, Auktion 4 (10. Mai 2011), Los 1067].

Dass es sich bei der Abgebildeten in der Tat um die Nymphe Arna handelt, beweist die Aufschrift ARNA, die über dem Ethnikon verläuft. Die Würfel bzw. Spielsteine, mit denen die halbnackte Nymphe spielt, waren aber keine Würfel, wie wir sie heute kennen, sondern genaugenommen Sprungbeine aus den Hinterbeinen von Schafen, Ziegen oder Rindern. Die alten Griechen nannten diese Knöchelchen Astragaloi (Singular Astragalos). (vgl. Abb. 2)


„Mädchen spielt mit Astragaloi“. Römische Kopie aus dem 2. Jh. nach einem griechischen Original aus hellenistischer Zeit. Standort: Staatliche Museen zu Berlin. [Bildquelle: Matthias Kabel, Wikimedia Commons].

Als man die Münzprägung im späten 4. Jahrhundert v. Chr. wieder aufnahm, emittierte man zwar erneut Silbermünzen gleichen Fußes mit der „Würfel“ spielenden Arna, doch waren dies nun Trihemiobole (1½ Obole), die auch vorderseitig Arna, genauer gesagt ihren Kopf, zeigten – zunächst nach rechts und dann nach links gewandt. (Abb. 3)


Kierion (Thessalien). Trihemiobol (spätes 4. Jh. v.Chr.), Silber, 1,46 g, 15 mm, Münzstätte Kierion. [Bildquelle: Nomos AG, Auktion 4 (10. Mai 2011), Los 1072].

Sieht man sich diese Münze etwas eindringlicher an, so stellt man fest, dass die Nymphe nun nicht mehr halbnackt, sondern im langen Chiton vollständig bekleidet ist, ihr Name nicht mehr genannt wird und das Ethnikon nun auf KIERI/EION lautet, was zwar ebenfalls ([Münze] der Kierioner) bedeutet, diesmal aber im Ionischen und nicht mehr im Dorischen Griechisch daherkommt.

Etwas später ersetzte man den Nymphenkopf der Vorderseite dann allerdings wieder durch den Kopf des bärtigen belorbeerten Zeus, behielt die Rückseitendarstellung aber unverändert bei.

(Abb. 4)


Kierion (Thessalien). Trihemiobol (spätes 4. Jh. v.Chr.), Silber, 1,30 g, 14 mm, Münzstätte Kierion. [Bildquelle: MA-Shops, Dr. Busso Peus Nachfolger (Januar 2021)].

Die „Würfel“ spielende Arna erschien jedoch nicht nur auf Silbermünzen, nein, sie schmückte auch die Rückseiten der Kleinbronzen (Ø 14-18 mm) und zwar bereits seit dem frühen 4. Jh. v. Chr.

(Abb. 5)


Kierion (Thessalien). Dichalkon (frühes 4. Jh. v.Chr.), Bronze, 3,10 g, Ø 18 mm, Münzstätte Kierion. [Bildquelle: Nomos AG, Auktion 4 (10. Mai 2011), Los 1070].

Dabei erschien der Zeuskopf der Münzvorderseite entweder kurzbärtig wie in Abb. 1 oder mit einem langen spitzen Bart, wie in Abb. 5.


Interessant und bemerkenswert ist, dass die „Würfel“ spielende Arna auch auf den Rückseiten etwas größerer Bronzemünzen (Ø 19-22 mm) späterer Jahrhunderte vorkommt, doch nicht mehr als Hauptmünzbild, sondern nur noch als kleines Zusatzmotiv zu einem Blitze schleudernden Zeus oder zu einem springenden Pferd. (Abb. 6)


Kierion (Thessalien). Trichalkon (spätes 3.-frühes 2. Jh. v.Chr.), Bronze, 6,58 g, Ø 20 mm, Münzstätte Kierion. [Bildquelle: Classical Numismatic Group, Electronic Auction 346 (11. März 2015), Los 46].

Ist der Blitze schleudernde Zeus das Hauptmünzmotiv, dann findet sich vorderseitig der Kopf des Apollon; beim Hauptmünzmotiv des springenden Pferdes bildet der Zeuskopf das Vorderseitenbild. Einzig und allein auf den silbernen Didrachmen und Drachmen des späten 4. Jh. v. Chr. trat Arna nicht in Erscheinung. Diese huldigten nur Zeus (Av.) und Asklepios (Rv.).



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