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Dietmar Kreutzer

Der verhängnisvolle Shilling


Haupteingang einer britischen Borstal-Fürsorgeanstalt. [Bildquelle: Geograph].

Die Zöglinge der britischen Fürsorgeanstalten galten als harte Burschen. Einige der Minderjährigen waren gemeine Diebe, andere hatten bereits einen Menschen getötet. Auch Falschmünzer, die immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatten, waren unter ihnen: „Marlowe hat gesagt, er habe genauso ein Recht wie die Königin von England, Geld zu prägen.“ (Brendan Behan: Borstal Boy, Frankfurt Main 1980, S. 215). Im Jahre 1939 wurde der 17-jährige Ire Brendan Behan in eine dieser Anstalten eingewiesen. Er hatte zugunsten der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) auf einer Liverpooler Werft einen Anschlag verüben wollen. In der Erziehungsanstalt Borstal in der Grafschaft Kent sollten er und viele andere jugendlichen Missetäter den Weg zurück ins Leben finden. Im Mittelpunkt des täglichen Programms stand schwere körperliche Arbeit, die nach einem Punktesystem entlohnt wurde. Fünf Punkte waren maximal an einem Tag zu erreichen. Gleich nach der Einweisung nahm sich ein Erzieher namens John L. Sullivan den jungen Brendan zur Brust: „Kriegst du weniger als zweiundzwanzig Punkte in der Woche, wirst du dem Heimleiter gemeldet, aber ich habe bisher keinen Iren gekannt, der so schlecht gewesen wäre – nicht mal, wenn er ein Krüppel war, geschweige denn ein fixer Kerl wie du. Für zweiundzwanzig Punkte bekommst du fünf Pence und einen halben Penny mehr oder weniger für jeden Punkt darüber. Für sieben Pence kannst du dir fünfzehn Gramm Tabak und ein Paket Zigaretten erstehen. Sicherlich rauchst du ebenso gern wie alle anderen. Madame Nikotin, die Göttin der Fürsorgezöglinge!“ (Ebenda, S. 226). Brendan wollte das Geld sowie die Zigaretten und meldete sich für den Bautrupp.

Erstausgabe von Borstal Boy aus dem Jahr 1958. [Bildquelle: Biblio].

Das britische Währungssystem basierte damals auf dem Pfund Sterling zu 20 Shillings. Zwölf Pence ergaben einen Shilling. Zum Zeitpunkt der Einweisung von Brendan Behan in die Fürsorgeanstalt für Jugendliche bei Rochester in der Grafschaft Kent hatte sich Großbritannien bereits vom Goldstandard verabschiedet. Das Pfund stand unter Druck. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme im Lande verlor es innerhalb von zwei Jahren gegenüber dem Dollar ein Drittel seines Wertes. Mitte des Jahres 1938 wurden in New York für ein Pfund noch 4,88 Dollar gezahlt. Zwei Jahre später waren es nur noch 3,21 Dollar. Anstelle der goldenen Sovereigns liefen Banknoten im Wert von einem Pfund Sterling um. Die kleinste Note war ein Zehn-Shilling-Schein. Als größte Umlaufmünze gab es die Crown im Wert von fünf Shillings. Der Durchmesser von 39 Millimeter war zwar wie früher geblieben. Ihr Metallwert hatte sich jedoch seit der Vorkriegszeit fast halbiert. Der Feinsilberanteil in der Legierung betrug nur noch 14,1 Gramm. Ein Shilling enthielt 2,8 Gramm Feinsilber, also ein Fünftel davon. Ebenfalls mit einem reduzierten Silberanteil wurden die Drei- und Sechs-Pence-Stücke ausgeprägt. Als Bronzemünzen liefen der Penny und der halbe Penny um. Außerdem gab es den Farthing im Wert eines Viertel-Pennies. Das mittlere Lohn- und Gehaltsniveau betrug zu Beginn des Zweiten Weltkrieges etwa 250 Pfund im Jahr. Eine Kinokarte kostete in der Jugend von Brendan Behan etwa vier Pence. So hat er es in seinem Buch Borstal Boy notiert.

1 Shilling (Großbritannien, George VI., 1939, 500er Silber, 5,6 Gramm, 23,5 mm). [Bildquelle: Online Coin Club].

Zu den wenigen Freuden der Zöglinge zählten die Badeausflüge zu einem versteckten Strand. Dort sprangen sie ins Wasser und ließen sich bräunen: „Eine Welt nackter wogender Glieder und stummer offener Augen.“ (Ebenda, S. 319). Im Arrestblock traf Brendan zwei Jungen, die beim Sex erwischt wurden: „Der eine war ein hübscher Bursche von sechzehn, der andere ein dunkler, größerer, vielleicht ein Jahr älter.“ (Ebenda, S. 271). Brendan fragte, warum sie in den Arrest gekommen seien. Die Antwort: „Ich hab von ihnen gehört, der Nachwächter hat sie ertappt, wie sie zusammen in der Falle lagen. Ja, so war’s, sie sind dabei eingeschlafen.“ (Ebenda, S. 272). Die Art der Beziehungen unter den Zöglingen spielte keine unwesentliche Rolle. Wer Spaß haben wollte, konnte sich in einer solchen Anstalt ja lediglich einen Jungen anlachen. Wenn Freundschaften dieser Art geschlossen wurden, waren Neid und Missgunst an der Tagesordnung. Der beste Freund von Brendan erregte sich etwa maßlos, weil ein Boxer namens Shaggy seinen Freund Leslie wegen eines Sechzehnjährigen sitzen ließ: „Ich finde, das ist eine ganz große Schweinerei von Shaggy, dass er sich mit jungen Bengels wie dem einlässt. Shaggy ist ja über achtzehn.“ (Ebenda, S. 317).

1 Penny (Großbritannien, George VI., 1939, Bronze, 9,4 Gramm, 31 mm). [Bildquelle: Online Coin Club].

Das Geld und die Zigaretten waren aber zweifellos das wichtigste Thema. Bei einem Ernteeinsatz beispielsweise waren mindestens acht Pence pro Woche zu verdienen. Brendan: „Auch wir kriegen acht Pence die Woche.“ Sein Kumpel Meadow erwiderte: „Ich weiß. Ich habe oft einen Shilling und einmal einen Shilling und zwei Pence verdient, wir sind aber auch Handwerker. Die sind ungelernt, sind Hilfsarbeiter. Acht Pence ist für die ´n Haufen Geld.“ (Ebenda, S. 340f.). In einigen Fällen versuchten Jungen, die weder in einer Clique verwurzelt waren noch einen festen Freund gefunden hatten, zu fliehen. Um ihren Plan auszuführen, mussten sie ihren kargen Lohn langfristig sparen. Der unglückliche Ken war einer von ihnen. Er war während eines Arbeitseinsatzes ausgerückt und versuchte mit dem Omnibus nach London zu kommen: „Ich schaute auf den Fahrplan und suchte mir eine Strecke aus, die einen Shilling kostete. Der Ort hieß Berry – Berry und etwas. Ich habe den Namen vergessen. […] Dann kam der Schaffner und sagte, der Fahrpreis sei inzwischen erhöht worden. Ich wusste nicht, was sagen. Drum gab ich ihm meinen Shilling und sagte, er solle mich so weit mitnehmen, wie mein Geld reiche. Und damit brachte er mich zur Polente.“ (Ebenda, S. 273). Zurück in der Anstalt, wanderte Ken für drei Monate in den Arrestblock.

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