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Dietmar Kreutzer

Chaplins Kindheit: „Mehr als drei Pfund an Trinkgeldern, alles in Silbermünzen!“

Die traurigste Geschichte aus seinen Kindertagen erzählte Chaplin gleich in der Einleitung zu seiner Biografie. Als der Zwölfjährige eines Nachmittags vom Spielen zurück kam, wartete seine von Sorgen gequälte Mutter im Mansardenzimmer, teilnahmslos zum Fenster hinaus schauend:

„Mutters gemietete Nähmaschine, mit der sie versuchte, den Lebensunterhalt zu verdienen, war abgeholt worden, weil sie mit der Miete im Rückstand geblieben war. Und auch meine Einkünfte von wöchentlich fünf Schillingen, die ich mit Tanzstunden verdient, und zum Haushalt beigesteuert hatte, waren plötzlich ausgeblieben.“ (1)

Mutter war dünn und abgehärmt, drehte sich um und schaute Charlie vorwurfsvoll an. Den Wortwechsel, der sich anschloss, vergaß Chaplin sein Leben lang nicht:

„Warum gehst du nicht zu den McCarthys? - Weil ich bei dir bleiben möchte. - Lauf nur zu den McCarthys und lass dir was zu essen geben – ich habe nichts für dich.“ (2)

Charlie Chaplin (1889-1977) im Jahr 1920 – Bildquelle: Wikimedia, National Portrait Gallery.


Charles Spencer Chaplin wurde am 16. April 1889 in London geboren. Weil sich seine Eltern kurz nach der Geburt trennten, wuchsen er und sein Halbbruder allein bei der Mutter auf. Das Trio war sehr arm, die Kinder mussten zeitweise ins Armenhaus. Im Jahr 1901 starb der Vater an den Folgen seiner Alkoholsucht. Die Mutter musste mehrfach in eine Heilanstalt, da sie wegen ihrer psychischen Probleme für geisteskrank erklärt wurde. Charlie und sein vier Jahre älterer Halbbruder Sydney trieben sich oft auf den Straßen herum. Schon früh mussten sie zum Lebensunterhalt beitragen. Als Zeitungsjunge fand Sydney eines Tages auf dem Oberdeck eines Linienbusses eine Geldbörse. Wie zufällig ließ er eine seiner Zeitungen darauf fallen, hob zusammen mit der Zeitung die Börse auf und verließ den Bus. Im Schutz einer Anschlagtafel öffnete er das Fundstück und erblickte eine Menge an Münzen. Atemlos überreichte er sie seiner Mutter:

„Als sie den Geldbeutel öffnete, erblickte sie ein Häufchen Silber- und Kupfermünzen. Hastig schloss sie ihn wieder und ließ sich von der Aufregung erschöpft ins Bett zurücksinken. (…) Als Mutter sich erholt hatte, leerte sie den Inhalt der Börse im Bett aus. Doch noch immer wog dieser Geldbeutel schwer. Es gab noch so ein Mittelfach darin! Mutter öffnete es und erblickte sieben Gold-Sovereigns. Wir waren ganz außer uns vor Freude.“ (3)

Ein Geschenk des Himmels! Einen Hinweis auf den Eigentümer gab es nicht.

Sovereign (Großbritannien, 1899, 917er Gold, 8,0 Gramm, 22 mm) – Bildquelle: Sovereign Rarities.


Wenig später begann Sydney auf einem Passagierschiff zur See zu fahren. Er sollte im Speisesaal arbeiten. Als Handgeld vor Dienstbeginn erhielt er 35 Shilling, die er seine Mutter weiterreichte. Monatlich verdiente der Junge zwei Pfund und zehn Schilling zuzüglich der Trinkgelder von den Tischen der zweiten Klasse:

„Sydneys Rückkehr von seiner ersten Reise war der Anlass zu einer Feier, denn er brachte mehr als drei Pfund an Trinkgeldern mit, alles in Silbermünzen. Ich sehe ihn noch das Geld aus den Taschen aufs Bett schütten. Es schien mir mehr als ich je zuvor auf einmal gesehen hatte, und ich konnte meine Hände nicht davon lassen. Ich spielte damit herum, häufte es, ordnete es in Rollen, bis Mutter und Sydney meinten, ich sei ein Geizhals.“ (4)

Shilling (Großbritannien, 1902, 925er Silber, 5,6 Gramm, 24 mm) – Bildquelle: Numista, Heritage Auctions.


Zu dieser Zeit basierte das britische Währungssystem bereits seit annähernd hundert Jahren auf einem faktischen Goldstandard:

„Jedermann konnte der Münzstätte Standardgold der vorgeschriebenen Feinheit (916 2/3 Tausendteile) einliefern und in Goldmünzen umprägen lassen, ohne dass Prägekosten erhoben wurden.“ (5)

Bei der Einlieferung von Silber zur Herstellung von Silbermünzen wurde dagegen ein Schlagschatz von sechs Prozent einbehalten, so dass praktisch niemand auf private Rechnung Silber einlieferte. Im Zahlungsverkehr mussten Silbermünzen zudem nur bis zu einer Höhe von 40 Shilling angenommen werden. Ein Pfund, der Gold-Sovereign, war 20 Shilling wert. Ein Shilling wurde in zwölf Pence aufgeteilt. Die Lebensverhältnisse in London waren von großem Wohlstand auf der einen Seite und extremer Armut auf der anderen gekennzeichnet. Für ein einzelnes Zimmer in einem zentralen Stadtteil, wie es die Chaplins bewohnten, musste man wöchentlich mit einer Miete von sechs bis acht Shillings rechnen. Hinzu kamen die Kosten für Lebensmittel. Charlies Mutter verdiente mit ihren Näharbeiten jedoch kaum die Miete. Sie nähte zu Hause Blusen zu einem Shilling und sechs Pence das Stück. Obwohl der Stoff bereits zugeschnitten war, brauchte sie für eine Bluse eine Stunde. War sie gut in Form, schaffte sie 54 Blusen in einer Woche, was sechs Shilling und neun Pence einbrachte. Zum Überleben war das zu wenig. Sie war auf die Unterstützung des von ihr getrennt lebenden Mannes angewiesen. Doch allzu oft kamen die fälligen zehn Shilling nicht. Dann mussten Jobs der Kinder aushelfen.

Penny (Großbritannien, 1895, Bronze, 9,4 Gramm, 31 mm) – Bildquelle: Numismatic Guaranty Company.


Schon als Jugendlicher bekam Charlie erste Engagements an Londoner Theatern. Es folgte Gastspiele in ganz England, Reisen nach Paris und in die Vereinigten Staaten. Dort unterschrieb er im September 1913 einen Vertrag als Filmschauspieler für Komödien. Aus einem Wochengehalt von 150 Dollar wurden bald Tausende von Dollars und schließlich Spitzengagen. Finanzielle Sorgen hatte Chaplin seither nie wieder. Im fortgeschrittenen Alter erfreute er sich eines sorglosen Lebens in der Schweiz an der Seite seiner Frau Oona:

„Von solchem Glück erfüllt, sitze ich manchmal bei Sonnenuntergang draußen auf unserer Terrasse und blicke über den weiten, grünen Rasen zum fernen See hinunter und darüber hinaus auf die Zuversicht einflößenden Berge, und in dieser Stimmung denke ich an nichts und freue mich ihrer großartigen Gelassenheit.“ (6)

Dietmar Kreutzer


Quellenangaben:

  1. Charles Chaplin: Die Geschichte meines Lebens; Stuttgart 1964, S. 8.

  2. Ebenda, S. 9.

  3. Ebenda, S. 22.

  4. Ebenda, S. 61.

  5. Herbert Rittmann: Moderne Münzen; München 1974, S. 86.

  6. Chaplin, S. 498.

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