In Rückblicken wird meist über die DDR-Bürger berichtet, die am 9. November 1989 vom Osten in den Westteil der Stadt kamen. Doch wie ging es den Westdeutschen, die in jener Nacht in den Osten wollten? Sie durften nicht ohne weiteres passieren. Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom war damals zufällig in Berlin, schaute am Morgen des 10. November aus einem Fenster des Café Adler, dem letzten Café im Westteil der Stadt vor dem Checkpoint Charlie, sah die Schlange der Trabis, die über die Grenze kamen, die weinenden Menschen: „Dann gehe ich selbst hinüber, stelle mich in die Reihe, alles wie immer, Visum, fünf Mark, Geld wechseln zum Verzweiflungskurs von 1:1, während der wirkliche Kurs 1:10 ist.“ (Cees Nooteboom: Berliner Notizen, Frankfurt/Main 1991, S. 103). Erst zum Jahresende 1989 wurde der Zwangsumtausch abgeschafft. Im Frühjahr 1990 war der Niederländer erneut in der Stadt, stand am Brandenburger Tor: „Ich gehe zum dortigen Grenzübergang, darf sofort durch und wechsle in einer kleinen Holzbaracke Westmark in Ostmark, drei zu eins. Man kann auch schwarz umtauschen, überall stehen finstere Typen mit dicken Geldscheinbündeln.“ Nooteboom fand es unwirklich, dass er für nur 1,20 Mark der DDR ein Bier bekam und für 3,95 Mark eine Portion Gulasch. „Nur in großen Hotels muss man mit D-Mark bezahlen, und an Tankstellen wird manchmal (ganz selten) der offizielle Umtauschnachweis verlangt. Gigantische Geldschiebereien finden statt, man spekuliert, rechnet, überall riecht, schmeckt man das Geld, hört es pochen, es surrt durch die Gespräche, die Angst geht um, die Unsicherheit, was nach dem 2. Juli passieren und was das für jeden einzelnen bedeuten wird.“ (Ebenda, S. 260).
Auf den Sondermünzen jener Zeit ist anfangs nur das Brandenburger Tor abgebildet worden. Im Osten war es ein 20-Mark-Stück aus Kupfer-Nickel, das anlässlich der Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember 1989 herauskam. Ein Drittel der Auflage wurde in Feinsilber geprägt. Der Aufwand für die Herstellung der Stempel war gering. Zum Einsatz kam die Modellvorlage einer seit 1971 in der DDR im Umlauf befindlichen Fünf-Mark-Münze. Im Westen erschien eine Silbermünze zu zehn Deutschen Mark, für deren Gestaltung im Juni 1991 der Wettbewerb entschieden wurde. Die Jury wählte eine moderne Bildgestaltung von Hubert Klinkel: „Am 18. Dezember 1991 erblickte die Münze das Licht der Welt. Heraus kam zu allgemeinen Überraschung eine ‚altmeisterlich‘ geschnittene Prägung Erich Otts aus München, zweifelsohne einem der besten Münzgestalter der Gegenwart in Deutschland. Vom Preisgericht war ihm jedoch lediglich einer von zwei vierten (!) Plätzen zugebilligt worden.“ (GeldKunst-KunstGeld: Deutsche Gedenkmünzen seit 1949, Osnabrück 2005, S. 108). Erstmals war das Bundeskabinett nicht dem Vorschlag des Preisgerichts gefolgt.
Im Juni 1991 wurde im Bundestag darüber abgestimmt, ob Regierung und Parlament nach Berlin ziehen sollen. Arbeitsminister Norbert Blüm erklärte in seiner Rede, die Stadt habe einen solchen Umzug nicht nötig: „Sechs Millionen Einwohner rechnen schon heute Fachleute in wenigen Jahren für Berlin aus. Das ist ein Drittel der Bevölkerung der ehemaligen DDR. Berlin wird in zehn Jahren mehr Einwohner haben als Hamburg, München und Köln zusammen. Zwei Millionen Beschäftigte mehr erwartet die Industrie- und Handelskammer Berlin in den nächsten zwanzig Jahren. Schon spricht man mit neuem Selbstbewusstsein von der größten Industriestadt zwischen Atlantik und Ural.“ (Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 34. Sitzung, S. 2737f.). Eine knappe Mehrheit stimmte dennoch für den Regierungsumzug. Die optimistischen Prognosen von Blüm und anderen Politikern bewahrheiteten sich nicht. Jahrelang verlor die Stadt an Beschäftigten und Einwohnern, verschuldete sich maßlos. Lediglich als Party-Location erlangte sie Weltruhm. Hunderttausende feierten in den Clubs und tanzten auf den Straßen. Die Freizügigkeit kannte fast keine Grenzen: „Man konnte sich auf House-Partys fast nackt ausziehen, und man wurde trotzdem in Ruhe gelassen.“ (Felix Denk / Sven von Thülen: Der Klang der Familie – Berlin, Techno und die Wende, Berlin 2014, S. 90). Zu diesem Image passend, bekam Berlin anno 2001 mit Klaus Wowereit den „Regierenden Partymeister“.
Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung bekam das Brandenburger Tor als wichtigstes Symbol der Stadt immer mehr Konkurrenz. Berlin war Hauptstadt geworden. Am Potsdamer Platz drehten sich die Kräne der größten Baustelle Europas. Die Designerin Doris Waschk-Balz setzte das neue Berlin für die Sondermünze zum zehnten Jahrestag der deutschen Einheit ins Bild. Im Protokoll des Preisgerichtes hieß es über den Siegerentwurf: „Die Darstellung der Bildseite trifft sehr genau den Anlass der Münze, den Vollzug der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990. Sie betont das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie, indem sie den Sitz des Deutschen Bundestages in Berlin darstellt. Die neue Kuppel des Reichstagsgebäudes, von der Bevölkerung als attraktives Symbol bereits angenommen, steht für die Transparenz der Volksvertretung und verpflichtet sie auf die Giebelinschrift (‚Dem Deutschen Volke‘). Die Darstellung zeigt die unabgeschlossene Dynamik des Prozesses vom Zerbersten der Mauer zu den Berliner Baukränen.“ (GeldKunst-KunstGeld, S. 353). Auch die Kehrseite der Münze passte ins Bild: „Der asymmetrische Bundesadler signalisiert Aufbruch, bleibt aber als Hoheitszeichen identifizierbar.“ (Ebenda). Nur die Menschen, welche die Vereinigung herbeigeführt hatten, tauchten auf keiner der Münzen auf. Einer der Entwürfe aus dem Wettbewerb hatte zwar eine Menschenmenge am Brandenburger Tor gezeigt. Er war jedoch durchgefallen. Erst zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit sollte ein Entwurf des Designers Bernd Wendhut mit feiernden Menschen vor dem Brandenburger Tor prämiert und auch ausgeführt werden.
Inzwischen war das Brandenburger Tor vom Einheitssymbol zu einem Ort des Hedonismus geworden. Es war Startpunkt und Endstation der Loveparade, des alljährlichen Sommerevents der Jugendkultur in den Neunzigern: „Mehr als eine halbe Million junge und jung gebliebene Raver tanzten zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor, rissen sich die Kleider vom Leib und konzentrierten sich auf eines: Spaß, Spaß, Spaß.“ (Heiße Beats und nackte Haut; auf: spiegel.de, 22. Juli 2001). Im Sommer 1999 war es nicht anders als zwei Jahre später. Das Motto lautete: Join the Love Republic!
Comments