Die Faszination der deutschen Taler ist unter Münzsammlern weit verbreitet. Wie hart für einen solchen Taler gearbeitet werden musste, ist weniger bekannt. Dies Buch gehört dem König (Berlin 1843) von Bettina von Arnim vermittelt ein Gefühl dafür. Das Buch, dessen Widmung im Titel steht, ist ein offener Brief an den König von Preußen. Die Autorin will König Friedrich Wilhelm IV. über die sozialen Zustände in seinem Land informieren, an sein Gewissen appellieren. In den Anhang nahm die Autorin einen Bericht des Schweizer Lehrers Heinrich Grunholzer auf: „Aus einer Berliner Armen-Kolonie“ ist die erste Sozialreportage der deutschen Literatur. Sie zeigt, wie im Berliner Viertel Vogtland mit Talern, Groschen und Pfennigen gerechnet werden musste.
Der erste Besuch führt Heinrich Grunholzer in das Vordergebäude eines „Familienhauses“ des Barons von Wülcknitz in der Gartenstraße 92. Das Haus verfügte über beinahe 30 einräumige Wohnungen: „In der Kellerstube Nr. 3 traf ich einen Holzhacker mit einem kranken Bein. Als ich eintrat, nahm die Frau schnell die Erdäpfelhäute vom Tische, und eine sechzehnjährige Tochter zog sich verlegen in einen Winkel des Zimmers zurück, da mir ihr Vater zu erzählen anfing. Dieser wurde arbeitsunfähig beim Bau der neuen Bauschule. Sein Gesuch um Unterstützung blieb lange Zeit unberücksichtigt. Erst als er ökonomisch völlig ruiniert war, wurden ihm monatlich fünfzehn Silbergroschen zuteil. Er musste sich ins Familienhaus zurückziehen, weil er die Miete für eine Wohnung in der Stadt nicht mehr bestreiten konnte. Jetzt erhält er von der Armendirektion zwei Taler monatlich. In Zeiten, wo es die unheilbare Krankheit des Beines gestattet, verdient er einen Taler monatlich; die Frau verdient das Doppelte, die Tochter erübrigt anderthalben Taler. Die Gesamteinnahme beträgt also sechseinhalb Taler im Monat. Dagegen kostet die Wohnung zwei Taler; eine ‚Mahlzeit Kartoffeln‘ einen Silbergroschen neun Pfennig; auf zwei tägliche Mahlzeiten berechnet, beträgt die Ausgabe für das Hauptnahrungsmittel dreieinhalb Taler im Monat. Es bleibt also noch ein Taler übrig zum Ankaufe des Holzes und alles dessen, was eine Familie neben rohen Kartoffeln zum Unterhalte bedarf.“ (Bettina von Arnim: Dies Buch gehört dem König; Berlin 2015, S. 228).
Im Zimmer Nr. 113 traf Grunholzer den alten Sinhold und seine Frau. Schwerkrank bekam das Paar einen Taler pro Monat von der Armendirektion. Das Geld ging direkt an den Hausverwalter, dem sie die Miete von drei Monaten schuldig waren. Vom Krankenverein wurde täglich eine kostenlose Suppe geliefert. Das Zimmer hatten sie aber bereits verloren. Sinhold sollte in die Charité eingeliefert werden. Seiner Frau drohte die Obdachlosigkeit. Der Lehrer verließ das Paar:
„Ich ging in den finstern Hausgängen auf und ab, horchte an den Türen, und wo ich weben hörte, trat ich ein. In Nr. 18 traf ich zwei Weber, die machten fünfviertel Elle breite dicke Leinwand. Jeder webt täglich sechs bis sieben Ellen und bezieht von der Elle einen Silbergroschen Arbeitslohn; dagegen hat er wöchentlich zehn Silbergroschen für die Einschlagespulen und fünf Silbergroschen für Schlichte auszugeben. In einem Monat werden also vier Taler rein verdient. Nach Abzug der Miete bleiben noch zwei Taler auf Nahrung, Kleidung und Holz zu verwenden. – Einen Arbeiter sah ich, dem ist die Frau gestorben; er kann keinen eigenen Haushalt führen, dient als Weberknecht, erhält von der Elle acht Pfennig und hat für sich und die Kinder das Tischgeld zu bestreiten. Diese Leute wären recht wohl zufrieden, wenn es ihnen nur nicht bisweilen wochenlang an Arbeit fehlte.“ (Ebenda, S. 229).
Im Dachstübchen sah Heinrich Grunholzer den Schuster Schadow arbeiten. Seine Frau nähte zugleich ein paar Lumpen zusammen. Zwei kleine, halbnackte Kinder spielten. In Erwartung des Inspektors, dem er die Miete schuldete, schrak Schadow beim Eintreten der Besucherin zusammen. Doch bald fasste der Mann Vertrauen und berichtete, wie er verarmte und seine Wohnung verlor:
„1836 zog er ins Familienhaus. Fünf seiner Kinder starben an den Pocken, und während sie krank waren, fehlte es ihm an Arbeit. Von niemandem unterstützt, geriet er dadurch so in Schulden, dass er mehrmals aus dem Hause geworfen werden sollte. Er verkaufte Hausgeräte und Kleider und ist jetzt so entblößt von allem, dass er nicht einmal ein Hemd besitzt. Durch Arbeit kann er sich nicht wieder aufschwingen, weil es ihm an Leder fehlt und die Flickarbeit, die er den Leuten im Familienhause macht, schlecht bezahlt wird. Zudem hat er mit zwölf anderen Schustern, die am gleichen Orte wohnen, zu konkurrieren. Ich sah es selbst, wie seine Frau um Arbeit ausging und er unterdessen die Kinder hütete. Es war drei Uhr abends, und er hatte an demselben Tag erst zwei Silbergroschen verdient; den einen gab er wieder aus für Zwirn, für den andern kaufte er Brot. Das Kleine fing an, vor Hunger zu weinen. Sch. hatte soeben einen Schuh geflickt und gab ihn der Frau mit den Worten: ‚Trage ihn fort, lass dir einen Sechser dafür geben und bring dem Kind ein Semmelbrot; es hungert.‘ Die Frau kam mit leerer Hand zurück; das Mädchen, dem der Schuh gehörte, konnte nicht bezahlen. Das Kind weinte noch immer, und Vater und Mutter weinten mit. Ich half mit einigen Groschen aus der augenblicklichen Verlegenheit. Schnell sagte Sch. zu seiner Frau: ‚Nun geh, hole für sechs Pfennig Brot, für drei Pfennig Kaffee und für drei Pfennig Holz; das übrige lege in den Schrank, ich will es dem Inspektor bringen; vielleicht hält er die Klage noch zurück.‘“ (Ebenda, S. 230).
Heinrich Grunholzer suchte noch eine Vielzahl weiterer Stuben dieses „Familienhauses“ auf. Überall hörte er von ähnlichen Schicksalen. In vielen Fällen trugen die Bewohner eine erhebliche Mitschuld an ihrer Situation. Unter den Männern war vor allem die Alkoholsucht weit verbreitet: „Ich hätte die Untersuchungen gerne noch weiter fortgesetzt. Sowie es aber bekannt war, dass ich das Gesehene notiere und mitunter einige Groschen schenke, verfolgten mich Weiber und Kinder und wollten mich in ihre Wohnung führen. Um nicht das ganze Vogtland in Auflauf zu bringen, blieb ich weg. Es sind indessen die angeführten Beispiele weder ausgesucht noch ausgemalt, so dass sich leicht auf die übrigen Bewohner der Familienhäuser schließen lässt.“ (Ebenda, S. 248)
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