Noch vor der Mitte des 2. Jh. v. Chr. setzt in Athen eine über einhundert Jahre andauernde Prägung von Silbermünzen ein, die in der Literatur als Münzen des Neuen Stils bezeichnet werden. Die Athener Prägestätte passt sich mit den Münzen des Neuen Stils einem Trend anderer hellenistischer Münzstätten an: Im Vergleich zu den vorhergehenden Prägungen Athens, den klassischen Glaukophoren, werden nun die Münzschrötlinge flacher und größer mit einem Durchmesser von bis zu 40 mm und bieten damit mehr Raum für Bilder und administrative Daten. Gleichzeitig wird das Gewicht minimal auf durchschnittlich ca. 16,75 g reduziert. Neu sind jetzt auch die Bilder auf Vorder- und Rückseite sowie die zahlreichen Informationen auf dem Revers. Trotz dieser Neuerungen stehen die Tetradrachmen ganz in der Athener Münztradition und sind auf den ersten Blick auch als Athener Prägungen zu erkennen.
Abb. 1 Athen, Tetradrachme, ca 154/3 v. Chr. Thompson 58e. Bildquelle: https://ikmk.smb.museum/object?id=18204001.
Auf dem Avers ist jetzt nicht mehr der Kopf einer archaischen Athena dargestellt, sondern ein Athenakopf mit klassischem Profil, der sicherlich von der Athena Parthenos des Phidias inspiriert ist. Athena trägt einen attischen Helm mit einem dreifachen Helmbusch. Die Wangenklappe ist nach oben geklappt, auf ihrer Innenseite trägt sie ein nicht näher zu bestimmendes Ornament. Oberhalb der Wangenklappe ist ein Pegasus, manchmal auch ein Greif dargestellt. Auf dem Helmvisier befinden sich vier Pferdeprotome. Der Nackenschutz ist am Rand mit einer Nietenreihe, in der Fläche mit einem vegetabilen Ornament verziert. Dieses wurde jüngst als stilisiertes Aphlaston identifiziert, d. h. als die Heckzier eines Schiffes, die nach einer Seeschlacht als Beute oder Siegeszeichen abmontiert wurde. Am Ohr trägt Athena einen Ohrring. Im Nacken und vor dem Ohr sind Haarsträhnen erkennbar. Der Athenakopf ist von einem Perlkranz umgeben.
Im Zentrum der Rückseite steht eine nach rechts gerichtete Eule mit Kopf in Frontalansicht. Hierbei handelt es sich nicht mehr um den Steinkauz der älteren Prägungen, sondern um einen Waldkauz (Strix aluco). Dieser steht auf einer liegenden Panathenäischen Preisamphore mit einem spornartigen Deckel. Diese wurden, gefüllt mit Olivenöl, den Siegern bei den großen Panathenäen als Siegespreis überreicht. Auf dem Bauch der Amphore ist ein Buchstabe eingraviert, z. Bsp. bei Abb. 2 ein "A" oder bei Abb. 3 ein liegendes "H". Bei diesen Lettern handelt es sich um die Monatsbezeichnung, in der die Münze geprägt wurde. Die Buchstabenreihe geht in einem regulären, zwölfmonatigen Jahr von A bis M (Α, Β, Γ, Δ, Ε, Ζ, Η, Θ, Ι, Κ, Λ, Μ), in einem Schaltjahr mit 13 Monaten bis N. Unterhalb der Amphore ist eine weitere Buchstabenkombination zu lesen, z. Bsp. bei den Abb. 2 und 3 "HP." Die Bedeutung dieser Buchstaben ist nicht abschließend geklärt, eventuell sind es Kontrollzeichen zur Herkunft des Rohsilbers.
Abb. 2 Athen, Tetradrachme, 135/4 v. Chr. Thompson 347d. Bildquelle: https://ikmk.smb.museum/object?id=18204002.
Links oder rechts im Feld befindet sich ein Beizeichen, bei Abb. 1 rechts zwei Dioskurenkappen, bei Abb. 2 und 3 links Asklepios und bei Abb. 4 rechts die sogenannten Tyrannentöter. Für jede Emission gibt es ein solches Symbol, dieses ist einmalig für jede Emission und wiederholt sich nicht! Verantwortlich für die Symbolauswahl war der erstgenannte Münzmagistrat. Oben im Feld, links und rechts der Eule steht das Ethnikon "ΑΘΕ" für Athen; darunter sind bei den Emissionen der ersten Phase Kürzel zu lesen (Abb. 1), die in Zusammenhang zu den Münzmeistern stehen, aber sich nicht sicher entschlüsseln lassen. Später werden die Münzmeister namentlich genannt, in der Regel sind es zwei, in manchen Jahren auch drei, wobei der dritte Münzmeister monatlich wechselt, während die ersten beiden das gesamte Prägejahr hindurch ihren Dienst versehen. Bei Abb. 2 sind im ersten Prägemonat A als Münzmeister "ΜΕ-ΝΕΔ / ΕΠΙΓΕΝΟ / ΘΕΟΦΡ" genannt, im siebten Prägemonat H als dritter Münzmeister "ΕΠΙΓΟ".
Abb. 3 Athen, Tetradrachme, 135/4 v. Chr. Thompson 351. Bildquelle: https://www.nomisma.museum.uni-wuerzburg.de/object?id=ID461.
Das gesamte Rückseitenbild wird von einen Olivenkranz gerahmt, wovon sich die Bezeichnung dieser Münzen als "Stephanephoren," d. h. als "kranztragende Tetradrachmen," ableitet.
Abb. 4 Athen, Tetradrachme, 84/3 v. Chr., Thompson 1171. Bildquelle:
https://www.ikmk.uni-tuebingen.de/object?id=ID3198.
Es ist das Verdienst von Margret Thompson, Anfang der 1960er Jahre durch Stempelvergleiche bzw. Stempelkopplungen die Athener Prägungen des Neuen Stils in eine relative chronologische Abfolge gebracht zu haben. Während die Abfolge der Emissionen zwischenzeitlich fast keine Änderungen erfahren hat, erhöhte sich deren Anzahl von 109 auf 111 und es wurde der Beginn der Prägung von ca. 196 v. Chr. auf ca. 170/160 v. Chr. herab datiert. Dreh- und Angelpunkt für den niedrigeren Datierungsansatz ist der 78. Jahrgang, bei dem als Münzmeister König Mithridates VI. von Pontos und der Tyrann Aristion fungieren. Dadurch lässt sich diese Emission sicher ins Jahr 87/86 v. Chr. datieren. Für die Jahrgänge 20 bis 87 gab es eine jährliche Emission, so dass bei diesen Jahrgängen die Chronologie feststeht. Bei den frühen und den späten Jahrgängen sind eine jährliche Emission und damit verbunden ihr zeitlicher Ablauf allerdings nicht gesichert.
Abschließend sei noch kurz auf das Symbol der Tetradrachme Abb. 4 eingegangen. Deutlich ist im Vordergrund eine nach links ausschreitende Figur zu erkennen. Ihr rechter Arm ist zum Schlag mit dem Schwert erhoben. Dahinter befindet sich eine weitere Figur, ebenfalls im Ausfallschritt nach links. Deren linker Arm ist weit nach vorne gestreckt, über dem Arm hängt eine Chlamys, und die linke Hand hält senkrecht eine Schwertscheide. Dieses Beizeichen stimmt weitgehend mit der in mehreren römischen rundplastischen Kopien überlieferten Statuengruppe der Tyrannentöter Harmodios und Aristogeiton überein, die 514 v. Chr. bei den Panathenäen den Tyrannen Hipparchos ermordeten. Das Original dieser Gruppe, geschaffen von den Bildhauern Kritios und Nesiotes, wurde 477/6 v. Chr. auf der Athener Agora zu Ehren von Harmodios und Aristogeiton, der Befreier von der Tyrannis, aufgestellt. Unser Beispiel zeigt deutlich, dass der erste Münzmeister bei der Auswahl seines Symbols gelegentlich auch auf berühmte Bildwerke seiner Heimatstadt zurückgegriffen hat.
Horst Herzog
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