Dass Phokaia in Ionien und Mytilene auf Lesbos zwischen 521 und 326 v. Chr. für ihren Fernhandel eine Unmenge an Elektronhekten (1/6 Statere aus Elektron) prägten, dürfte Sammlern antiker Münzen sehr wohl bekannt sein. Hierbei folgten Phokaia und Mytilene einem gemeinsamen Vertragswerk, welches vorsah, dass beide Städte abwechselnd jedes zweite Jahr Münzen bzw. Elektronhekten prägen sollten. Um die Jahresbeamten, die für diese Münzprägung verantwortlich waren, kontrollieren zu können, führte man in Ermangelung einer Monogramm- oder Beizeichenpraxis jährlich wechselnde Münzbilder (in Phokaia) bzw. jährlich wechselnde Kombinationen von Münzbildern (in Mytilene) ein, die man dann dem jeweils verantwortlichen Beamten zuordnen konnte. Dass sich auf Grund dieser Prägepraxis innerhalb von nahezu 200 Jahren eine immense Menge an unterschiedlichen Münzbildern bzw. Kombinationen von Münzbildern ergaben, ist logisch und nachvollziehbar. Ungewöhnlich ist allerdings, dass man hierbei nicht nur Götter, Nymphen, Heroen, diverse Tiere, mythische Geschöpfe oder Bildmotive anderer Städte auf die eigenen Hekten setzte, sondern auch noch so eigenartige Bildkompositionen, wie jene rückseitige der abgebildeten Hekte aus Mytilene.
Mytilene (Lesbos): Hekte, 432 v. Chr., Elektron, 2,52 g, Ø [Höhe Vs.] 10 mm
Quelle: Münzen & Medaillen GmbH, Auktion 44 (25. November 2016), Los 54 („RR, sehr selten, nur 8 Exemplare bekannt“)
Betrachtet man die abgebildete mytilenische Hekte eindringlicher, so stellt man fest, dass sie vorderseitig eine recht klassische Darstellung der Göttin Athena mit korinthischem Helm trägt, während sie rückseitig zwei weibliche Köpfe zeigt, deren Gesichter nicht bloß einander zugekehrt sind, sondern sich in eigenartiger Weise überschneiden. Da ein Kopf offensichtlich vor den anderen gestellt ist, dürfte genaugenommen nur ein Gesicht sichtbar sein, doch hat der Stempelschneider hier beide Gesichter um ein und dasselbe mandelförmige Auge in der Mitte angeordnet, so dass man sowohl nach links als auch nach rechts ein vollständiges Gesicht erkennen kann. Wen oder was diese Münzrückseite darstellt, muss leider offen bleiben. Friedrich Bodenstedt beschrieb diese Rückseite 1981 wie folgt: „Zwei sich überschneidende weibliche Köpfe in Mützen mit hochgeschlagenem Rand und gefälteltem Kopfteil. Ihre Zöpfe im Nacken sind archaisierend durch zwei Reihen von je 5 Kugeln dargestellt.“ (F. Bodenstedt: Die Elektronmünzen von Phokaia und Mythilene. Tübingen 1981, S. 236) Ob damit wohl die Doppelnatur einer weiblichen Gottheit, einer Nymphe oder eines sonstigen weiblichen Wesens angedeutet werden sollte? Aber wer weiß, vielleicht sollte ja der Stempelschneider hier auch kein „real existierendes“ weibliches Wesen darstellen, sondern durfte seiner Kreativität einfach nur freien Lauf lassen und etwas Einzigartiges, Rätselhaftes, noch nie Dagewesenes schaffen und damit gleichzeitig sein künstlerisches Können unter Beweis stellen.
Laut Bodenstedt sind von dieser „rätselhaften“ Hekte nur 8 Exemplare aus 2 Vorder- und 3 Rückseitenstempel auf uns gekommen.
Ruinen einer spätrömischen Festungsanlage auf Mytilene aus der Zeit Justinians I. (6. Jh. n. Chr.)
Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Ego (Fallacia83)