Auch für Anfänger müssen antike griechische Münzen kein Rätsel bleiben, die Erinnerung an die griechische Sagenwelt kann bei der Aufschlüsselung helfen. Ein Beispiel:
Auf der abgebildeten Münze sieht man auf der Rückseite einen nackten jungen Mann in heftiger Kampf-Bewegung.
Dass es sich um den griechischen Helden Herakles handelt, erschließt sich dem, der sich erinnert, dass Herakles den nemeischen Löwen tötete und ihm anschließend das Fell abzog, um dies seinem Auftraggeber, dem König Eurystheus zu bringen. Weiß der Betrachter zudem, dass griechische Helden in der Regel nackt dargestellt wurden und Keule und Löwenfell die Attribute des Herakles sind, so kann er zweifelsfrei sagen, der Abgebildete ist Herakles.
Wen Herakles hier allerdings vor sich hat und gegen wen sich seine Angriffshaltung richtet, darüber gibt das Bild keine Auskunft, zumal außer Herakles niemand mehr zu sehen ist. Jetzt muss man die griechischen Buchstaben lesen und zu verstehen versuchen. STUMFALIWN kann man buchstabieren, also STYMPHALION. Das erinnert klanglich an eine der Heldentaten von Herakles, seinen Sieg über die stymphalischen Vögel. Noch immer kennen viele Menschen die antiken Sagen in der Nacherzählung von Gustav Schwab. Über die stymphalischen Vögel schreibt er (Sagen des klassischen Altertums. Ausgabe München 2001, S. 153): „Dies waren ungeheure Raubvögel, so groß wie Kraniche, mit eisernen Flügeln, Schnäbeln und Klauen versehen. Sie hausten um den See Stymphalos in Arkadien und besaßen die Macht ihre Federn wie Pfeile abzudrücken und mit ihren Schnäbeln selbst eherne Panzer zu durchbrechen; dadurch richteten sie in der Umgegend unter Menschen und Vieh große Verwüstungen an.“ Gegen diese Vögel hatte König Eurystheus Herakles gesandt. Als Herakles dort eintraf, hatten sich alle Vögel in der Nähe des Sees in einem dichten Wald versammelt. Doch noch ehe sich Herakles angesichts einer so großen Vogelschar zu einer Angriffstaktik entschließen konnte, erschien die Göttin Athena, gab ihm eine eherne Klapper und wies ihn an, diese gegen die Vögel einzusetzen. Der große Held folgte ihrem Rat, klapperte kräftig damit und erschreckte die Vögel dermaßen, dass sich alle in die Lüfte erhoben. Daraufhin nahm er seinen Bogen und schoss einen Pfeil nach dem anderen auf die Vögel, bis ein Großteil von ihnen tot vom Himmel fiel und die übrigen wegflogen und nie wieder kamen. Der Bogen, den Herakles auf der Münze in seiner Linken hält, kann somit als Hinweis auf die bevorstehende Tat gewertet werden. Ob der Heros auch mit der Keule in der erhobenen Rechten zuschlug? Wer weiß, vielleicht auf bereits am Boden liegende Vögel. Vielleicht wählte der Stempelschneider die zum Schlag bereite Keule in der erhobenen Rechten aber auch nur, um Herakles in Bewegung und nicht statisch darstellen zu müssen. Die antike griechische Mythologie ist also eindeutig der Schlüssel zur richtigen Interpretation dieser Münzrückseite.
Aber noch mal zur Schrift STUMFALIWN, also STYMPHALION. Das heißt zu Deutsch [Münze] der Stymphaler, benennt also die Herkunft der Münze. Die Stymphaler waren die Einwohner des Ortes Stymphalos, der wiederum am gleichnamigen See gelegen war und der nach der Sage von den stymphalischen Vögeln heimgesucht wurde.
Die Vorderseite der Münze schmückt das anmutige Porträt der Artemis Stymphalia, die in Stymphalos in einem ihr geweihten Tempel verehrt wurde. Folgt man Kurt Lange, der sich wiederum auf den antiken Autor Pausanias (VIII, 22. 8) beruft, so wurden diese Münzen vermutlich zum Fest der Artemis Stymphalia geprägt. (Kurt Lange: Götter Griechenlands. Berlin 1946, S. 129)
Stymphalos (Arkadien): Didrachmon (um 362 v. Chr.), Silber, 11,67 g, Ø (Höhe Rs.) 24 mm, Münzstätte Stymphalos. Quelle: Nomos AG, Auktion 15 (22. Oktober 2017), Los 125