Auf Euboia, der zweitgrößten griechischen Insel an der Ostküste Mittelgriechenlands gelegen, befindet sich die Stadt Karystos. Diese wurde um 490 v. Chr. von den Persern erobert und musste 480 v. Chr. Schiffe für die Flotte des Perserkönigs Xerxes stellen. Nach dem Sieg der Griechen über die Perser wurde Karystos 475 v. Chr. von Athen gezwungen, dem Attisch-Delischen Seebund beizutreten und einen jährlichen Tribut von 7½ Talenten, nach 450/49 v. Chr. von 5 Talenten, zu entrichten. Während der Diadochenzeit, der Zeit nach dem Tode Alexanders des Großen (ab 323 v. Chr.), beherrschten die Makedonen die Stadt. 198 v. Chr. wurde Karystos von einer römisch-pergamenischen Flotte erobert und zwei Jahre später zur „civitas libera“ (freien Stadt) erklärt. Berühmtheit erlangte Karystos zur Römerzeit vor allem wegen des hochgeschätzten grünen Marmors, der nordwestlich der Stadt abgebaut wurde.
Anders als die meisten Münznominale von Karystos, die immer wieder Herakles, Poseidon, Zeus, Apollon oder einer „verschleierten“ Göttin huldigen, zeigen die silbernen Statere bzw. Didrachmen der Stadt eher ungwöhnliche, profane Münzmotive. So sehen wir auf ihren Vorderseiten eine nach rechts stehende Kuh mit zurückgewandtem Kopf, die ihr Kalb säugt, und auf ihren Rückseiten einen nach rechts stehenden Hahn. Wirken Kuh, Kalb und Hahn auf den zwischen 510/500 und 480/465 v. Chr. geprägten Stateren noch ziemlich archaisch stilisiert, so erscheinen sie auf den klassischen oder hellenistischen Prägungen überaus naturgetreu und eindrucksvoll. Die Stadt weist mit diesen Münzbildern auf die bedeutende Viehzucht hin, wobei Kuh und Kalb zugleich an ein sprechendes Wappen erinnern, hat doch der Name Euboia die Bedeutung „rinderreiches Land“.
Über den genauen Zeitpunkt ihrer Ausprägung sind sich die Numismatiker allerdings uneins. Laut David R. Sear wurden diese späteren Statere zwischen 350 und 300 v. Chr. geprägt und laut Oliver D. Hoover erst zwischen 270 und 253 v. Chr.
Übrigens, die Umschrift KA–RYSTION bedeutet ([Münze] der Karyster).
Karystos (Euboia). Stater/Didrachme (um 350–300 v. Chr. oder um 270–253 v. Chr.), Silber, 7,96 g, Ø (Höhe Vs.) 23mm. [Quelle: LHS Numismatik AG, Auktion 102 (29. April 2008), Los 169]
Kuh säugt Kälbchen. Foto: Michael Kurt Sonntag